Kuratorenteam: Paradiesisch und pervers

(c) Christine Pichler
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Zwei Kuratoren knipsen einen Schnappschuss der Wiener Kunstlandschaft. Das Bild fällt äußerst positiv aus.

„Ihr habt wirklich Glück“, sagt Luca Lo Pinto. „Wien ist ziemlich klein, aber was das kulturelle Angebot angeht, ist es wie eine paradiesische Insel.“ Der Italiener lebt seit Mai in diesem Paradies, die Kunsthalle holte ihn im Zuge einer internationalen Ausschreibung als Kurator nach Wien, wo er zuletzt eine Ausstellung über den französischen Maler und Drehbuchautor Pierre Bismuth gestaltete. „Natürlich ist Wien auch sehr konservativ, man merkt, dass die Leute nicht geradeaus sagen, was sie sich denken. Aber dann ist da diese dunkle Underground-Sache, die man immer wahrnimmt.“ Kein Wunder, dass die Psychoanalyse in Wien erfunden wurde, sagt Lo Pinto: „Es ist eine ziemlich perverse Stadt.“

Anne Faucheret lacht. Aber sie weiß, was ihr Kollege meint: „Zuerst hast du den Eindruck, dass die Kultur hier sauber und politisch korrekt ist. Aber wenn du wirklich eintauchst, findest du eine Menge Aktivitäten unter dieser Oberfläche.“ Die französische Kunsthistorikerin hat ihre Liebe für zeitgenössische Kunst ausgerechnet hier entdeckt, mit der Schule war sie auf Wien-Woche, als sie in der Sezession eine große, grüne, schleimige Masse bestaunt hat. „Ich war total beeindruckt.“ Ihr Berufsweg führte sie von Paris über Zwischenstopps in Köln und Berlin zurück nach Österreich. Von 2009 an lebte sie in Graz, wo sie zuletzt als kuratorische Beraterin für den Steirischen Herbst arbeitete. Seit dem Vorjahr ist auch sie Kuratorin der Kunsthalle. Gelegenheit, unter die Oberfläche der Wiener Kunstwelt einzutauchen, hatte sie dabei zur Genüge: Am 17. April eröffnet die Ausstellung „Destination Wien 2015“, die sie gemeinsam mit Lo Pinto und drei weiteren Kuratoren, darunter Kunsthalle-Direktor Nicolaus Schafhausen, zusammengestellt hat.

Nicht die Wiener Szene. Das Folgeformat der im Fünf-
jahrestakt stattfindenden Schau „Lebt und arbeitet in Wien“ zeigt 71 Positionen zeitgenössischer Kunst – ein „durchaus eigenwilliges, überraschendes und pluralistisches Bild der Wiener Kunstlandschaft“, wie es im Pressetext heißt. Klingt nach einer Hitliste der Wiener Szene – eben das soll es aber nicht sein. „Eine repräsentative Schau ist genau, was wir nicht sein wollen“, sagt Faucheret. Wien sei eine lose Bühne, sagt Lo Pinto. Die Protagonisten aus unterschiedlichen Generationen und mit unterschiedlichen
Hintergründen unter einen Schirm zu zwingen sei nicht sinnvoll. „Wir wollen Raum für Interpretationen lassen, anstatt zu sagen: ,Das ist die Szene.‘“

Dementsprechend wird es in den drei bespielten Hallen im Museumsquartier und am Karlsplatz auch keine inhaltlich sortierten Bereiche geben – obwohl einige Themen durchaus öfter vorkommen, etwa die Auseinandersetzung mit Leerstellen der österreichischen Geschichte: Anna Artaker etwa rekonstruierte Teile der Rothschild’schen Gemäldesammlung, die dem Kunstraub der Nazis zum Opfer fiel. Johann Schoiswohl arbeitet mit einem alten Fotoalbum aus der NS-Zeit, aus dem die Fotos herausgerissen wurden. Weitere beliebte Themen sind Architektur, Stadtmarketing und das eigene Scheitern.

Etwa die Hälfte der Positionen wählte das Kuratorenteam aus den rund 600 Bewerbungen, die im Rahmen eines Open Call eingereicht wurden. Die andere Hälfte haben die Kuratoren in Eigenregie oder auf Empfehlungen hin zusammengesammelt. Die Kriterien waren offen, neue Positionen sind in der Ausstellung genauso zu sehen wie 15 Jahre alte Werke. Während „Lebt und arbeitet in
Wien“, wie der Titel schon sagt, Künstler gezeigt hat, die
in Wien leben und arbeiten, war der Wohnort diesmal kein Ausschlussfaktor. „Es gibt Künstler, die in einem geschlossenen Studio arbeiten“, so Lo Pinto, „das könnte in Wien, Shanghai oder New Orleans sein, und es würde keinen Unterschied machen. Andere Künstler beziehen sich auf den Ort, in dem sie leben.“ „Destination Wien“ will die Stadt nicht auf einen Standort der Produktion reduzieren – auch wenn es hier super Arbeitsbedingungen gebe –, sondern als Projektionsfläche untersuchen.

Ein Snapshot, kein Wegweiser. Bis die 71 Künstler, die nun in der Schau vertreten sind, ausgewählt waren, hat es dementsprechend gedauert, jeder der fünf Kuratoren hat sich mit jeder einzelnen Einreichung beschäftigt. „Das Ergebnis ist eine Ausstellung, die nur eine Möglichkeit ist“, sagt Lo Pinto. Ein Snapshot – kein Wegweiser durch den Wiener Kunstdschungel, keine Liste von Namen, die man sich merken muss, kein Kunsthandbuch für den Wien-Neuling. Faucheret ergänzt: „Wenn du einen Einblick bekommen willst, was diese Stadt alles produziert,
musst du rausgehen.“ Auch dazu will die Ausstellung
Gelegenheit geben: Unter dem Motto „Destination Wien Extended“ sind Wiener Kultureinrichtungen eingeladen, mit Diskussionsveranstaltungen, Ausstellungen, Performances an dieser großen „Orchestrierung des Wiener Kunstgeschehens“ teilzunehmen.

Wie unterscheidet sich dieses Wiener Kunstgeschehen nun von Paris und Rom? „Paris ist diverser, aber auch komplizierter und nicht sehr risikofreundlich“, sagt
Faucheret. „Die Leute, die im Kunstsystem etwas zu
entscheiden haben, versuchen jede Kunstpraxis immer theoretisch zu legitimieren, anstatt Dinge
einfach zu zeigen, weil sie frisch und neu sind.“
„Rom ist das Gegenteil von Wien“, sagt Lo Pinto. Er kommt aus einer kulturell interessierten Familie, wurde ständig in Museen mitgenommen, als Kind hat er das gehasst. Bis er mit zehn Jahren aus Zufall „The Andy Warhol Diaries“ entdeckte – und angesteckt wurde von der Lebensfreude der Pop-Art-Künstler. Es war Sommer, und innerhalb von fünf Tagen sah er sich sämtliche Ausstellungen an, die in Rom gerade liefen.

Was Kulturinstitutionen angeht, liege Italien heute weit hinter Österreich. „Die Akademie in Rom ist eine der schlechtesten weltweit. Aber: Die Italiener warten nicht darauf, dass etwas vom Himmel fällt. Wenn sie etwas
wollen, nehmen sie es sich.“ In Österreich hätten Künstler Institutionen hinter sich oder jemanden, der ihnen auf die Schulter klopft. „In Italien mit Kunst zu arbeiten ist wie Fußball spielen mit einem Medizinball. Hier in Österreich fühlt sich der Ball superweich an.“

Tipp

„Destination Wien 2015“. Die Zusammenschau von 71 Positionen zeitgenössischer Kunst bietet von 17. 4. bis 31. 5. einen Einblick in das Wiener Kunstgeschehen. Neben den Ausstellungen im Museumsquartier gibt es performative Kunst am Karlsplatz, Kunsthallewien.at

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