Biennale Venedig: „Das Kapital“ von Karl Marx als Oratorium?

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Kurator Okwui Enwezor will alle drei Bände der „Kritik der politischen Ökonomie“ live verlesen lassen: als „das große Drama unserer Zeit“, wie er sagt. Ein ästhetisch und politisch seltsames Happening.

„Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ,ungeheure Warensammlung‘, die einzelne Ware als seine Elementarform.“

Mit diesem Satz soll am Mittwoch im zentralen Ausstellungspavillon der Kunstbiennale von Venedig eine langwierige Lesung beginnen: Der gebürtige Nigerianer Okwui Enwezor, künstlerischer Leiter der Biennale, will Schauspieler alle drei Bände des „Kapitals“ von Karl Marx vorlesen lassen, das sind weit über 2000 Seiten.

Das soll „eine Art Oratorium“ werden, heißt es auf der Homepage der Biennale. Die Lesung solle dem Akhand-Path-Ritual der Sikh-Religion folgen, erklärte Enwezor ein andermal. In diesem Ritual wird ununterbrochen aus der zentralen heiligen Schrift der Sikhs vorgelesen, das soll den Lesenden und den Hörern Frieden und Trost bringen.

Marx' „Kritik der politischen Ökonomie“ als heiliger Text? „Ist das Hauptwerk von Marx ein tröstliches Gebetbuch, das jetzt in die Kunst-,Arena‘ importiert wird, weil die eigentliche Revolution draußen gescheitert ist?“, fragte die deutsche Zeitung „Die Welt“. Man könnte weitere kecke Fragen stellen: Wirkt „Das Kapital“ womöglich – wie der Koran, der für Muslime nur auf Arabisch volle Gültigkeit hat – nur in der Originalsprache, also diesfalls auf Deutsch? Gehören sämtliche Fußnoten dazu? Hat das 48. Kapitel – „Die trinitarische Formel“, das sind übrigens die Paare Kapital-Profit, Boden-Grundrente, Arbeit-Arbeitslohn – geringeres spirituelles Gewicht, weil es „nur“ von Engels aus Marx-Fragmenten zusammengestellt wurde?

„Missbrauch von Marx“

In Interviews erklärt Enwezor das Leseprojekt freilich weniger religiös: Marx' Werk besitze immer noch zeitgenössische Aspekte, man müsse sich, „auch wenn der Kommunismus scheinbar gescheitert ist“, mit dem „Missbrauch von Marx“ befassen.

Das klingt schon vernünftiger. Tatsächlich ist „Das Kapital“ alles andere als ein sakraler Text. Es ist auch keine Hetzschrift, keine Anleitung zur Revolte, sondern ein an mathematischen Formeln reiches ökonomisches Werk, eine Analyse des Kapitalismus, die auch von nicht linken, sondern marktliberalen Ökonomen durchaus geschätzt wird. Einiges darin ist wirklich, wie Enwezor sagt, „noch genauso aktuell wie zu der Zeit, als es geschrieben wurde“ – was erstaunlich ist, bedenkt man, dass der erste Band fast 150 Jahre alt ist und dass einer seiner Pfeiler – die Erklärung des Werts einer Ware als „geronnene“ Arbeitszeit – ziemlich wacklig ist, was, apropos Biennale, gerade der Kunstmarkt gut zeigt. Zu den theoretischen Passagen kommen, vor allem im Abschnitt über den Akkumulationsprozess des Kapitals, einige drastische Schilderungen des Elends der Arbeiter im England und Irland des 18. Jahrhunderts. Eine Strategie zum Sturz des Kapitalismus sucht man im „Kapital“ jedenfalls vergeblich; auch über die von Marx und Engels angestrebte Gesellschaftsform findet man nur recht allgemeine Sätze wie: „Vom Standpunkt einer höhern ökonomischen Gesellschaftsform wird das Privateigentum einzelner Individuen am Erdball ganz so abgeschmackt erscheinen wie das Privateigentum eines Menschen an einem andern Menschen.“

Diese Ansicht hat sich, ganz leidenschaftslos gesagt, nicht durchgesetzt; und die Versuche, sie mit Gewalt durchzusetzen, haben viel Leid gebracht. Es wäre dennoch verfehlt, Karl Marx für die Verbrechen des Kommunismus verantwortlich zu machen oder sein „Kapital“ zu ächten. (Ähnlich wie es verfehlt wäre, Nietzsche zu verteufeln, weil Hitler sich von ihm inspiriert wähnte, oder die Bibel zu zensurieren, weil in ihrem Namen Verbrechen begangen wurden.)

Was wurde eigentlich aus „Empire“?

„Lire le Capital“ empfahlen 1965 Louis Althusser u. a., das kann man noch immer empfehlen, sowohl Freunden als auch Kritikern des Kapitalismus. (Wenn sie genug Zeit haben.) Doch die Idee einer sakralen Verlesung des „Kapitals“ hat etwas Ungutes an sich, allein wenn man bedenkt, wie in KP-Diktaturen die sogenannten „Klassiker“, also neben Lenin auch Marx und Engels, als sakrosankt galten. (Der Autor dieser Zeilen hat selbst erlebt, wie bei einer KPÖ-Veranstaltung sachliche Einwände mit dem Argument weggewischt wurden, das stehe eben bei Marx/Engels „so geschrieben“.)

Linke sollten auch daraus gelernt haben, dass vor über zehn Jahren ein Buch, das sich als Aktualisierung des „Kapitals“ gab – „Empire – die neue Weltordnung“ von Michael Hardt und Antonio Negri (2000) –, ähnlich ehrfürchtig in Arbeitskreisen studiert wurde und heute mit seinen seltsamen Konzepten wie dem der „Multitude“ von kaum jemanden mehr ernst genommen wird. Das „Kapital“ hat sich besser gehalten, gewiss, aber es als quasi heiligen Text zu behandeln, sollte auch für vernünftige Linke ein Unsinn sein. „Die Wahl der Ästhetik ist immer auch eine politische Wahl“, sagte Enwezor selbst im Interview mit der „Wiener Zeitung“. Er hat sich mit dem Happening der „Kapital“-Lesung für eine ästhetisch und politisch bedenkliche Form entschieden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.05.2015)

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