In der bunten Zeitkapsel

 Giulio Superti-Furga
Giulio Superti-Furga(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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CeMM-Direktor Giulio Superti-Furga fördert die Zusammenarbeit von Wissenschaft und Kunst – etwa mit dem Engagement von Martin Walde.

Es sind 13.000 Notizhefte in 20 Farben mit 1,6 Millionen leeren Seiten, die in den Regalen stehen. „Time Capsule“ nennt Martin Walde diesen knapp 16 Quadratmeter kleinen ovalen Raum: ein außergewöhnlich zweckfreier Rückzugsort, den der Wiener Künstler für das Forschungsinstitut CeMM entworfen hat.

Die Abkürzung bezeichnet das Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Die rund 100 Forscher des CeMM arbeiten in einem architektonisch markanten Turm, der mitten im AKH-Gelände zwischen Krankenhaus und Medizinuniversität steht. Sie forschen zu Krebs, Entzündungen und zum menschlichen Genom – Themen, die sich schon auf der Turm-Fassade abbilden: Da wuchern biomorphe Formen über die Glasflächen. Sind es winzig kleine Zellen, ist es ein großer Organismus wie ein Flechtengewächs oder soll das erotische Körperformen darstellen? „Die Entscheidung hängt vom seelischen Zustand des Betrachters ab“, erklärt Giulio Superti-Furga dazu. Er ist seit 2005 wissenschaftlicher Direktor des CeMM und beauftragte vor sechs Jahren Peter Kogler mit der Fassadengestaltung – damit begann seine intensive Auseinandersetzung mit Kunst.


Einen Schritt voraus. Damals habe er die Erfahrung gemacht, dass Künstler Wissenschaftlern „immer einen Schritt voraus“ seien, erinnert sich der gebürtige Italiener. Künstler würden vernetzend denken und ungewöhnliche, „komplementierende Sichtweisen“ annehmen. „Beide Berufe versuchen, unsere Wahrnehmung des Menschen in der Welt zu expandieren. Aber nur den Künstlern ist es gegönnt, dabei weite, auch ideelle und virtuelle Sprünge zu machen. Die Wissenschaft hingegen arbeitet mit realen Experimenten, die auf aufeinander bezogenen Bausteinen beruhen und daher keine Lücken zulassen.“ Wissenschaftler würden Modelle zur Erklärung benötigen, in der Kunst dagegen müsse die Realität nicht dargestellt werden. Die Abstraktion sei „eine Stufe weiter, weder konkret noch technisch, sondern eine Implikation“ – ein Einschließen vieler Beziehungen, wie in Koglers Fassadengestaltung, aber auch in Waldes „Time Capsule“.

Kooperationen von Kunst und Wissenschaft sind nicht ungewöhnlich. Superti-Furga geht allerdings weiter, als nur Gespräche zu suchen und Kunstwerke in den CeMM-Turm einzubinden. Ein Stichwort sind dabei die oben angesprochenen „seelischen Zustände“. Denn er lädt Künstler ein, in die Arbeitsprozesse bzw. Welt der Wissenschaftler emotional einzugreifen. Vor drei Jahren beauftragte er das Designerduo Walking Chair, einen Raum für Brainstorming, die Brain Lounge, zu entwerfen. Im obersten Stockwerk steht jetzt ein spektakulärer Konferenztisch mit 14 Sitzen auf einer Plattform, die sich dreht. Neun Minuten dauert eine Runde. Einige Sitzlehnen wurden von Künstlern gestaltet, darunter Dorothe Golz, Eva Schlegel, Alois Mosbacher und auch Martin Walde. An der Wand hängt ein Lichtobjekt von Brigitte Kowanz, die Eingangswand ist mit einem Muster von Esther Stocker bedeckt – Werke, die die Stimmung dieses Raumes nachhaltig prägen.


Zweckfreier Ort. Diese Brain Lounge sei ein Kommunikationsort, in dem man sich Kreativität und Innovation erwarte, erklärt Superti-Furga. Martin Waldes „Time Capsule“ dagegen soll reflexiv funktionieren, als dezidiert zweckfreier Ort, in dem der ständige Leistungsdruck außer Kraft gesetzt ist. Hier ist Platz für kürzelhafte Notizen – für eine unbegrenzte Zahl an Möglichkeiten, die „die autoritäre Realität verbiegen“ können, wie es Walde formuliert, ein „kollektiver Ideenraum frei von Ungeduld, Eifer oder raffinierter Systematik“. Und vor allem frei von Kontrolle. Walde spricht von der „nomadischen Natur“ der Hefte. Jedes Heft hat eine andere Farbe. Zwar hat er sich einen Monat lang die Farbanordnungen genau überlegt. Aber jetzt können die Besucher ein Heft herausnehmen, etwas hineinschreiben und es wild neu einordnen. Die Notizen sind so nicht nur anonym, sondern auch kaum auffindbar. Jeder könne hier einen „schriftlichen Abdruck zurücklassen, losgelöst von Erwartungen, mit dem man auf großzügige Weise dem Kollektiv etwas schenken kann“, erklärt Giulio Superti-Furga. Das unkontrollierte Entnehmen, Notieren, Hinzufügen unterliegt nur einer einzigen Regel: Jeder Besucher muss sich in ein Logbuch eintragen. Es sei später einmal „historisch interessant zu sehen, wer hier war“.

Nicht nur das Fehlen von Kontrolle wirkt inspirierend. Die 20 Farben korrelieren mit den Aminosäuren und erinnern an die chemische Vielfalt der Proteine, die aus verschiedenen Bausteinen gebildet werden. Damit veranschaulicht die Kapsel die biologische Komplexität: Das Erbgut eines Menschen aufzuschreiben benötigt etwa so viele Hefte wie sie hier zur Verfügung stehen. Nimmt man ein Heft aus den Reihen und räumt es woanders wieder ein, kann das mit einer genetischen Mutation verglichen werden. Ein Muster wird verändert, und das wirkt sich auf das gesamte System aus. Denn alles steht weit über die unmittelbare Umgebung hinaus in enger Verbindung. „Netzwerkeffekte“ nennt Superti-Furga das – ein zentrales Paradigma der Genomregulation.

Schon jetzt finden sich erste Notizen in den Heften, die als Gedankenspiele zugleich hoch präzise und weithin offen sind. Noch offener sind die Farbspiele, deren Kombinationen die Obsessionen und Vorlieben der Besucher beeinflussen und widerspiegeln.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.06.2015)

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