Visionen? Tunnelblicke!

Wie bestellt und nicht abholbar: Die schwedische Künstlerin Sofia Hult´en stellt gewöhnliche, allerdings fatal mutierte Transporthilfen in den Raum.
Wie bestellt und nicht abholbar: Die schwedische Künstlerin Sofia Hult´en stellt gewöhnliche, allerdings fatal mutierte Transporthilfen in den Raum.(c) Momentum-Biennale
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Es gibt sie noch, die obsessive, exzentrische Kunst: Die achte Momentum-Biennale in Moss zeigt Blicke in „die Welt, die jeder von uns alleine bewohnt“.

Wenn der Mann die Butter im Kühlschrank nicht findet, macht man dafür gern den Tunnelblick verantwortlich. Was mag dann eine „Tunnel Vision“ sein? Diesen Titel wählte ein vierköpfiges Kuratorenteam für die achte Momentum-Biennale in Moss – einer kleinen Küstenstadt gut 50 Kilometer südlich von Oslo. Kurator Engqvist spricht von einem Blick in „die Welt, die jeder von uns alleine bewohnt“: Ihn interessiere nicht das „Modell des Künstlers, der sich der Welt total öffnet“, sondern „eine nach innen gerichtete künstlerische Praxis“.

Nur 25 Künstler wurden eingeladen. Sie führen individuelle Ideen bis zur letzten Konsequenz aus. Exzentrische und obsessive Kunst, die sich von den Fesseln der plakativen Reproduzierbarkeit befreit und keine aktuellen Themen platt tritt – gibt es das noch? Diese Biennale beweist: Ja. Das Ergebnis ist noch dazu künstlerisch erfreulich überzeugend und vielseitig. Da treffen Verschwörungstheorien (Edward Schenk behauptet Verbindungen der Biennale mit der norwegischen Ölindustrie) auf Psychedelisches (die gespenstischen Bilder des Chilenen Cristóbal Lehyt), Recherchen auf Obsessionen. Gleich zu Beginn hüllt Fujiko Nakaya den Eingangsraum der Kunsthalle in dichten Nebel. Die Arbeit trägt die Nummer 01494 – ist das eine fortlaufende Nummerierung? Die japanische Künstlerin zeigte ihre erste Nebelinstallation 1970 in dem von E.A.T. konzipierten Pepsi-Pavillon auf der Expo in Osaka–jenem Pavillon, der gerade im Museum der Moderne Salzburg so sperrig mit Archivmaterial präsentiert ist. 45 Jahre Nebel: Das wäre eine wahre Leidenschaft.

Recherchen über Hakenkreuze

Auch Minna L. Henriksson folgt einer Obsession: Seit sie auf einem geerbten Landschaftsbild auf der Rückseite einen Nazi-Stempel fand, recherchiert sie das Hakenkreuz bzw. das altindische Swastika-Symbol in der nordischen Architektur und Kultur. Eva Löfdahl fertigte 150 Tage lang täglich eine Skulptur aus einfachen Materialen an, und Sofia Hultén verwandelt gemeine Sackrodeln in irritierende Objekte. Wie beiläufig vergessen stehen diese Transporthilfen herum, und erst nach und nach entdeckt man die Modifikationen: falsch platzierte Reifen, verschränkte Haltestangen, vertauschte Griffe.

Am deutlichsten ist das Thema Tunnelblick in Julius von Bismarcks „Jugendbewegung“ ausgeführt: Unaufhörlich dreht sich ein fahrerloser Polo um die eigene Achse. Am Eröffnungstag saß der Künstler zeitweilig am Steuer – ein Selbstversuch, den man im Juni schon auf der Art Basel, Sektion Unlimited, beobachten konnte. Dort drehte sich eine überdimensionierte Schale rasant, innen waren ein Bett und ein Schreibtisch befestigt. Zwischen ihnen wechselte von Bismarck hin und her, bewegte sich auf diesem unstabilen Grund mit erstaunlicher Sicherheit. Auch im Polo in Moss befiel ihn keine Übelkeit – offenbar muss man nur konsequent die Außenwelt ausblenden und schon funktioniert das „Egozentrische System“, wie das Werk in Basel hieß.

Viele Beiträge erzeugen eine klaustrophobische Atmosphäre, unterstützt durch den allgegenwärtigen Soundtrack der queeren Popmusikerin Zhala – aber wo sind die Visionen? „Vision“ bedeutet in der Momentum Biennale interessanterweise keinen Anspruch auf Ausblicke in die Zukunft, keine neuen Strategien für Problemlösungen, keine Erweiterung unseres Horizonts. Stattdessen sehen wir zwar thematisch weit gestreute, aber jeweils enge, individuelle Vorstellungen ohne vordergründige gesellschaftliche Bezüge. Aber entsteht nicht alle gute Kunst aus einer fokussierten Perspektive? Ja, deswegen führt uns diese Biennale auch nicht aus dem Tunnel hinaus, sondern zeigt uns die enorme Weite, die in der Verengung liegen kann – wenn der Blick nicht in den Kühlschrank, sondern in die inneren Welten gerichtet ist.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.08.2015)

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