Ai Weiwei als toter Mann am Strand

Chinese artist Ai Weiwei stands at a beach where refugees and migrants arrive daily on the Greek island of Lesbos
Chinese artist Ai Weiwei stands at a beach where refugees and migrants arrive daily on the Greek island of Lesbos(c) REUTERS (GIORGOS MOUTAFIS)
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Kunstaktion zur Flüchtlingskrise. Der chinesische Künstler Ai Weiwei hat das Foto des toten Flüchtlingsbuben Aylan Kurdi nachgestellt: ein Selbst- und Strandbild als politischer Appell, eine Ikone über eine Ikone.

Es ist seine Hommage an ein Foto, und an ein Schicksal, das stellvertretend ist für viele: Ai Weiwei hat sich am türkischen Küstenteil von Lesbos fotografieren lassen, bäuchlings auf dem steinigen Strand liegend, dicht am Wasser. Wüsste man es nicht aus den Medien, man würde nicht unbedingt erkennen, was er nachstellt – nämlich das Foto des toten dreijährigen Syrers Aylan Kurdi, das um die Welt ging und zum Symbol für das Leid der Flüchtlinge wurde. Das von einem indischen Fotografen gemachte Bild soll im Rahmen eines Interviews in der Zeitschrift India Today erscheinen, auf der India Art Fair ist es bereits zu sehen.

Ai Weiwei ist der erste berühmte Künstler, der das Foto vom toten Flüchtlingsbuben verwendet, die Öffentlichkeit hat sich schon längst seiner bemächtigt. Unzählige Bearbeitungen kursieren im Internet. Erwachsene haben sich gemeinsam an den Strand gelegt und fotografieren lassen, alle in roten T-Shirts und blauen kurzen Hosen, wie der kleine Bub sie trug; Zeichnungen zeigen Aylan mit Heiligenschein, mit Flügeln, als Jesuskind mit Joseph und Maria, oder auch als bekleidete Sandskulptur. Andere Bilder wiederum machen ihn lebendig, zeigen ihn, wie er am Strand eine Sandburg baut. Von einer größeren Öffentlichkeit wahrgenommen wurde bisher nur eine Zeichnung im französischen Magazin „Charlie Hebdo“, die einen Buben in derselben Lage wie auf dem Foto neben einem McDonald's-Werbeschild zeigte. Als Kritik an europäischer Gleichgültigkeit gedacht, erntete die Karikatur auch massive Kritik – sie sei pietätlos.

Ein Bild von einem Buben

Wer das Foto des toten Buben als unantastbar ansieht, übersieht, dass es eben nicht nur die Abbildung eines realen Einzelschicksals ist, sondern schon durch seine Rezeption zum Kunstprodukt wurde. Es berührt nicht nur deswegen so tief, weil ein real gestorbener kleiner Bub darauf zu sehen ist. Nur deswegen konnte es so viele erreichen, weil es zugleich so stilisiert, auf das Wesentliche reduziert wirkt, so gegensätzlich zur furchtbaren Realität. Es erinnert ein wenig an ein schlichtes Bild aus einem Bilderbuch, mit einem Bild von einem Buben (auch im übertragenen Sinn): kleinkindhaft rundliche Gliedmaßen, einfärbiges rotes Leiberl, einfärbige kurze blaue Hose, und ein halb verdecktes, dadurch auch weniger individuelles Gesicht.

Dennoch erreicht das Bild mit Aylan zuallererst das unmittelbare Gefühl, die Symbolik ist sekundär. In Ai Weiweis Schwarz-Weiß-Foto ist es umgekehrt. Der Himmel, die Bäume, das Wasser, alles vermittelt einsame Weite – fehlten nicht die Zeichen glühender Mittagshitze, könnte man an den Strand in Camus' „Der Fremde“ denken, an dem ein sinnloser Mord geschieht. Alles drängt in dieselbe Richtung, zum Land, nur der Körper von Ai Weiwei zeigt in die Gegenrichtung – fast, als würden sich seine Schultern im Liegen gegen diesen Andrang der Naturgewalten stemmen; als hätte man ihn extra dafür hierhergelegt. Schlicht und drastisch hat Ai Weiwei hier Kritik an Europas Flüchtlingspolitik in ein Selbstbildnis gegossen. Eine Ausstellung in Kopenhagen mit Werken von ihm hat er vorzeitig schließen lassen, aus Protest gegen die dänische Asylpolitik. Sein Foto ist Teil eines umfassenden Engagements auf Lesbos, einem Hauptankunftsort der Flüchtlinge; Ai Weiwei ist länger dort, dreht Filme und plant u. a. ein Denkmal für die toten Flüchtlinge.

Trotzdem haben ihm manche prompt Selbstdarstellung vorgeworfen. Aber was soll es auch sonst sein? Selbstdarstellung war schon das Ziel von Selbstporträts, seit sich Dürer als Jesus oder Rembrandt als Star malte. Wenn sich Künstler als arme Kranke inszenieren oder wie Paul Gauguin als Jesus (weil sie sich so leidend fühlen), wirft ihnen merkwürdigerweise niemand Selbstdarstellung vor; will ein Künstler aber mithilfe seines Körpers eine politische Botschaft platzieren, muss er sich sogleich rechtfertigen. Ai Weiwei ist für seine Selfies berühmt, und auch diese Selbstporträts hatten politische Botschaften – etwa wenn er sich mit seinem Reisepass zeigte, den die chinesische Regierung ihm wieder ausgehändigt hatte, oder als er seine Festnahme durch Polizisten dokumentierte. Ist das Kunst? Man könnte darauf mit einem Zitat des Künstlers selbst antworten: „Mich interessiert nicht, ob etwas Kunst ist, sondern ob es eine gute Idee ist.“

Eine gute Idee ist es auf jeden Fall, den Strand neu zum Gegenstand der Kunst zu machen. Als Ankunftsort der Flüchtlinge ist er das Gegenteil des „Locus amoenus“, den er in der westlichen Kunst lange darstellte. Nur selten erlebte man dort ansatzweise den Einbruch des Idylls – etwa wenn in Thomas Manns Erzählung „Mario und der Zauberer“ an einem harmlosen Strandtag in Italien nationalistische Feindseligkeiten spürbar werden, beunruhigende Vorboten des abendlichen Auftritts von Cipolla, dem Zauberkünstler: Das gestörte Strandidyll als Auftakt einer Politparabel.

ZUR PERSON

Ai Weiwei, geboren 1957 in Peking als Sohn des Dichters und Regimekritikers Ai Qing, war 1979 ein Gründungsmitglied der Künstlergruppe Stars Group, die eine Kunst nach staatlicher Leitlinie ablehnte. Seither ist er immer wieder Repressalien durch Behörden und Polizei ausgesetzt. So hatte er jahrelang Ausreiseverbot, 2011 wurde er wegen „Wirtschaftsverbrechen“ für drei Monate verhaftet. Seit 1. 11. 2015 ist er Gastprofessor an der Berliner Universität der Künste.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.02.2016)

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