Sprache: Nur die wirkliche Flut tötet wirklich

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Strom, Welle, Flut, Tsunami - Wasserbilder beherrschen die Flüchtlingsdebatte. Sie waren schon immer zur Stelle, wenn es um Masseneinwanderung ging. Über schönes Strömen, und warum man nicht mehr sagt "Das Boot ist voll".

Touristen tauchen zu einem Flüchtlingsboot auf dem Meeresgrund, zu den Ertrunkenen? Grässlich pietätlos klingt das, gemeint ist es nicht so. Das ungefähr 15 Meter unter der Wasseroberfläche liegende Boot ist eine gespenstische Skulptur, ebenso wie die Menschen, die da vor der Küste der spanischen Insel Lanzarote am Grund zu sehen sind – dahinwandelnd, stehend oder auf dem Boot zusammengekauert; erschöpft, grübelnd, verzweifelt.

Der britische Künstler Jason deCaires Taylor hat die Installation für das neue Unterwassermuseum Museo Atlantico gestaltet, das am Donnerstag seine Pforten öffnet. Er wollte, sagt er, ein Denkmal für die überlebenden Flüchtlinge schaffen ebenso wie für jene, „deren Träume und Hoffnungen auf dem Boden des Meeres geendet haben“.

Hier sieht man also Menschen überflutet – wie so viele Flüchtlinge es in Wirklichkeit wurden. Auch der öffentliche Gebrauch der deutschen Sprache ist derzeit, ja, überflutet von Wassermetaphern, die Flut und Überflutung ausmalen. Nur dass als Bedrohte nicht jene erscheinen, die tatsächlich von den Fluten bedroht worden oder in ihnen umgekommen sind, sondern die Bewohner jener Länder, zu denen diese Menschen – hinströmen.

Die Philosophie liebte den Strom

Um Wasserbilder kommt man freilich kaum herum, wenn man große Migrationsbewegungen beschreiben will. Menschen strömen, vor allem Massen, das tun sie in der Sprache seit jeher. Auch das Bild vom Flüchtlingsstrom oder von den Flüchtlingswellen ist alt, es zieht sich durch die Geschichte der Einwanderungsbeschreibungen, findet sich im 19. wie im 20. Jahrhundert. Und die Assoziation mit dem Wasser muss auch keineswegs per se böse gemeint sein, sie ist grundsätzlich nachvollziehbar. Was bewegt sich in der Natur großflächig, über weite Entfernungen in eine klare Richtung? Wasser, als Fluss, als Strom. Auch die aus der Vogelperspektive aufgenommenen Fotos lassen die endlos scheinenden breiten Flüchtlingszüge als Strom erscheinen.

Alle Wassermetaphern entmenschlichten, man sollte sie in der Flüchtlingsdebatte ganz entsorgen, hört man derzeit immer wieder; es handle sich ja hier um einzelne Menschen mit ihren Schicksalen. Aber ganz ohne Abstraktion geht es nun einmal nicht, in der Politik schon gar nicht. Der Philosoph Hans Blumenberg beschrieb den Strom als wunderbare „Metapher für große Anwendungen“ – für das Schicksal, die Zeit, das Leben, die Geschichte, das Bewusstsein. Der Strom könne die uns entfliehende Wirklichkeit ausdrücken, ihre Unbeständigkeit, Unfassbarkeit. Je nachdem, wie man mit dieser beweglichen Wirklichkeit umgeht, kann das Bild vom breiten Strom eher schön lebensspendend oder eher bedrohlich wirken. Selbst, dass der „Zustrom“ der Flüchtlinge damit etwas von einer unabänderlichen Naturgewalt bekommt, muss noch nicht Angst wecken.

Anders wird es, wenn der Strom zur „Welle“, zur „Flut“ oder gar zum „Tsunami“ wird. Mit erstaunlicher Beharrlichkeit beherrschen die Wassermetaphern spätestens seit dem 19. Jahrhundert die Migrationsdebatten, egal in welchen Sprachen – und immer mit fließenden Grenzen in Richtung Kontrollverlust, vom Strom zur Flut, zur Überflutung.

Dafür gibt es unzählige Beispiele. Auch im Skandinavien der 1930er- und 1940er-Jahre etwa sprachen die Beamten der Flüchtlingsbehörden angesichts der jüdischen Flüchtlinge (in denen sie ebenfalls zum Teil Wirtschaftsflüchtlinge sahen) von Einwanderungswellen, Flüchtlingsströmen und einer drohenden Flut; Politiker nannten die Grenzen Schleusen.

Die „steigende braune Flut“ (der Latinos)

Das vom Front National gern verwendete Bild vom „überfluteten“ Frankreich („submergé“) gehört zum Uralt-Arsenal derer, die um ihre nationale Identität fürchten. Und die Wassermetaphern „stream“, „flood“, „flow“ oder „wave“, die heute in den USA in Bezug auf lateinamerikanische Migranten verwendet werden (bis hin zum Slogan von der „brown tide rising“, der „steigenden braunen Flut“, die an die „rote Flut“ der Bolschewiken erinnert), haben ebenfalls jahrhundertelange Tradition.

„Dämme gegen die Asylanten-Springflut“, hieß ein Leitartikel in der deutschen „FAZ“ 1980. Zumindest Zeitungen sind mittlerweile vorsichtiger in der Wortwahl. Auch der Slogan vom „vollen Boot“ ist fast verschwunden – warum eigentlich? Zunächst wohl deswegen, weil der Satz so abgegriffen ist. Er war schon während des Zweiten Weltkriegs verbreitet, als es um die Aufnahme jüdischer Flüchtlinge ging (was den Publizisten Alfred Häsler dazu brachte, sein kritisches Buch über die Schweizer Flüchtlingspolitik „Das Boot ist voll“ zu nennen). Er beherrschte auch die Migrationsdebatten der 1980er- und 1990er-Jahre; vermutlich hängt er den meisten inzwischen zum Hals raus.

Oder, wohl der zweite Grund: Er bleibt drin stecken – angesichts der Bilder von überfüllten Flüchtlingsbooten. Nicht alle Wassermetaphern sind so unangebracht. Nur sollte man bei ihrem Gebrauch nie vergessen, dass die wirklich bedrohliche Flut keine metaphorische ist, sondern eine reale; genauso real wie der Tod darin.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.02.2016)

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