Albertina: Die Kunst der Verleugnung der Schwerkraft

Unter Stalin musste Malewitsch wieder zur Figur zurückkehren: „Mädchen im Feld“, 1928–1929.
Unter Stalin musste Malewitsch wieder zur Figur zurückkehren: „Mädchen im Feld“, 1928–1929.(c) Staatl. Russ. Museum
  • Drucken

Eine prächtige, epische Ausstellung erzählt von der extremen Zeit der russischen Avantgarde, von Chagall und Malewitsch, von zehn Jahren, in denen so viel Aufbruch, Kampf, Leiden(schaft) geschah, wie nie sonst in der Kunstgeschichte.

Man merkt das Herzensanliegen des Albertina-Direktors – diese Ausstellung hat Klaus Albrecht Schröder zumindest im Geiste seit Jahrzehnten vorbereitet, er sei Ausstellungen der russischen Avantgarde immer schon rund um die Welt regelrecht nachgefahren, erzählt er. Das kann er sich jetzt sparen, er muss nur in den zweiten Stock der Albertina gehen. Ab heute ist hier in selten epischer Breite die Geschichte der innovativsten Zeit der Moderne, wahrscheinlich sogar der spannendsten Zeit in der ganzen Kunstgeschichte, zu sehen. Und es ist eine prächtige Schau geworden.

130 Gemälde, ein paar Skulpturen und Papierarbeiten hat Kurator Schröder vor allem aus dem Staatlichen Russischen Museum in St. Petersburg ausgeliehen. Diese ungewöhnliche Konzentration auf die Malerei ist es auch, die diese Ausstellung so bestechend macht. Denn schnell kann man sich verzetteln als Kurator angesichts des Anspruchs der russischen Künstler in der Kernzeit von 1910 bis 1920, Kunst und Leben zu verbinden. Was zu einer unvergleichlichen Fülle an Medien führte, in denen man versuchte, der bolschewistischen Revolution zu dienen, von deren gesellschaftlicher Utopie die Künstler erst einmal begeistert waren. Fotografie, Buchdruck, Stoffmuster, Theater, Aufmärsche, Plakate, alles musste im Geist der neuen Sache gestaltet werden. Der Künstler sollte Forscher und Produzent sein, nicht einsam im Atelier werken, was die meisten dennoch taten.

Gleichberechtigte Künstlerinnen

Auf genau das wirft Schröder sie jetzt zurück, die ganze Multimedialität lässt er beiseite. Genauso wie die besondere Rolle der Künstlerinnen, die sich einzigartig in den modernen Avantgarden dank neuer Gesetze gleichberechtigt neben ihre Kollegen stellen konnten, was unlängst in der Paare-Ausstellung im BA-Kunstforum beleuchtet wurde. Die Bilder der Malerinnen hängen in der Albertina nun in einer derart nonchalanten Selbstverständlichkeit dazwischen, dass der Unterschied zu anderen europäischen Moderne-Präsentationen, in denen man Frauennamen lang sucht, noch markanter ist.

Aber auch auf diesen Gender-Sidestep lässt sich die Albertina-Ausstellung nicht ein, es geht alles um diese frappierende Gleichzeitigkeit der Stile, um die rasante Abfolge von Schulen, das Sichtbarmachen der existenziellen Spannungen zwischen den Künstlern, die schließlich alle um einen Trog, um einen einzigen Auftraggeber rittern mussten, den Staat. Es gab einfach keine Sammler, keine Galerien, die hier halbwegs friedliche Parallelentwicklungen unterstützt hätten, wie es in Paris oder Berlin der Fall war.

Es ist also die Politik, in deren Dienst sich diese Avantgarden stellten und die daher auch unvergleichlich großen Einfluss nahm auf die Kunst. Was auch innerhalb der Gesamtwerke einzelner Künstler zu teilweise absurden stilistischen Volten führte. So zum Beispiel bei Natan Altmann, der 1914 ein elegantes, kubistisch nur angehauchtes Porträt der Dichterin Anna Achmatowa schuf. Sieben Jahre später erkennt man seine Handschrift nicht wieder bei einem geometrisch-abstrakten, mit Schrift versetzten Agit-Prop-Schild. Umgekehrt geht das weiter, 1922 malte Wladimir Lebedew noch eine in all ihre kubistischen Einzelteile zerlegte Wäscherin. 1935 dann ein rosig-nackiges Renoir-Mädchen. Wie viele andere war er nach Stalins Machtergreifung in die innere Emigration gegangen, 1932 hatte das Zentralkomitee der KPdSU die Auflösung aller künstlerischen Gruppierungen beschlossen, die nicht dem Sozialistischen Realismus entsprachen.

Der erste Raum der Ausstellung ist anhand von vier Bilderpaaren der Demonstration solcher wilden stilistischen Sprünge gewidmet. Geht man weiter, geht man mitten hinein in die Geschichte – vor sich sieht man schon eine Büste Lenins, dreht man sich um, sieht man zwei Büsten des letzten Zarenpaares, Nikolaus II. und Alexandra. In diesem Fegefeuer wird klar, dass der Beginn der russischen Avantgarden bereits vor der Revolution anzusiedeln ist, beim Künstlerpaar Natalia Gontscharowa und Michail Larionow mit ihrem betont nationalen Primitivismus.

Und schon beginnt die rasante Rallye der Ismen: Rayonismus, Kubofuturismus, Suprematismus, Konstruktivismus, Supranaturalismus etc. Hinter all diesen spröden Begriffen stehen enorme Leidenschaft und kämpferische Geister wie Wladimir Malewitsch, Vladimir Tatlin, Alexander Rodtschenko. In diesen Machtkämpfen blieb kein Auge trocken, es war beinhart, so wechselte etwa 1920 die gesamte Klasse an der Kunst-Uni in Witebsk, an der Marc Chagall unterrichtete, geschlossen zu Konkurrent Malewitsch – gegenständlich zu malen galt plötzlich als altmodisch.

Wunderschöner Chagall-Raum

Chagall, dem ein wunderbarer Raum gewidmet ist, u. a. mit dem Hauptwerk des „Grünen Geigers“, das laut Schröder vielleicht das letzte Mal vom Stedelijk Museum Amsterdam verliehen wurde, musste schließlich nicht nur die Kunst-Uni, an die er Malewitsch ursprünglich sogar berufen hatte, sondern auch Russland wieder verlassen. Genau wie Wassily Kandinsky, der mit seiner lyrischen Abstraktion und seiner großbürgerlichen Herkunft im bolschewistischen System nicht weiterkam. Was aber alle verbindet, so Schröder, ist die Ablehnung der Vergangenheit, die sich in einer Art Schwerelosigkeit ausdrückt, in einer Negation der Gravitationskräfte.

Das hat sein Ende mit der Machtübernahme Stalins, mit dem Sozialistischen Realismus sinkt alles wieder schwer zu Boden. Das letzte Bild der Ausstellung steht in seiner Totenstille für diese alles zudröhnende Doktrin: Wladimir Malagis' Bild von 1933 zeigt Arbeiter, die sich um einen Tisch versammelt haben. Auf ihm steht ein Lautsprecher, das Bild heißt „Man lauscht der Rede Stalins“.

Bis 26. Juni, tägl. 10–18 h, Mi. 10–21 h

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.02.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.