Ohne Kunst in den Abgrund

Glanz und Glamour der großen Oper: Günther Groisböck (rechts) bei den Salzburger Festspielen 2014/15 als Herr Baron auf Lerchenau im „Rosenkavalier“ von Richard Strauss. Regie führte Harry Kupfer.
Glanz und Glamour der großen Oper: Günther Groisböck (rechts) bei den Salzburger Festspielen 2014/15 als Herr Baron auf Lerchenau im „Rosenkavalier“ von Richard Strauss. Regie führte Harry Kupfer. Neumayr/picturedesk.com
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Wir haben Intendanten von Theatern, Opernhäusern und Festivals von Rang ein paar alte Fragen gestellt, die immer wieder neue Antworten brauchen. Zur "Hochkultur", zum Zeitgemäßen, zur Politik.

1. Wie zeitgemäß ist die Hochkultur?

2. Wie politisch darf, soll oder muss Kunst heute sein?

2. Spiegelt sich Ihre Meinung dazu in Ihrem Spielplan
wider?

3. Kann Kunst die Welt verändern?

Karin Bergmann

Direktorin des Wiener Burgtheaters seit 2014.

HOCHKULTUR hat heute immer den negativen Beigeschmack von Exklusivität, von Ausschluss. Gerade wenn ich an unser Metier, das Theater, denke, wünsche ich mir, den Begriff auch wieder positiv zu sehen. Die Vorsilbe HOCH hat mit wachsen zu tun, und die Worte HOCHzeit, HOCHamt sind positiv konnotierte Begriffe, die den Festcharakter zum Ausdruck bringen. Auch das Theater ist etwas Festliches: Menschen versammeln sich, um gemeinsam einem Spiel zuzuschauen. Jenseits religiöser Definitionen ist es Ritus, Liturgie. Und im besten Fall wachsen Menschen an einem Theaterabend – sie wachsen gleichsam als Erlebnisgruppe zusammen und als Einzelne über ihre Alltagssituation hinaus. Der moderne Staat hat völlig zu Recht erkannt, dass Hochkultur nicht Ausschluss bedeuten darf, und leistet sich daher Theater, Oper, Museen. Denn die Menschheit hat den Anspruch und die Sehnsucht zu wachsen, auch jenseits ökonomischer Begriffe. Theater sind, wie Kultureinrichtungen überhaupt, durchaus systemrelevant. Und die Möglichkeit der Teilhabe an der HOCHkultur hat mit dem Grundgedanken von Demokratie zu tun. Aber vielleicht ist es heute zeitgemäßer, von weltoffener Kultur zu sprechen. Als Bedürfnis nach aufmerksamer und offener Begegnung mit Kunst, wofür bewusst der Rahmen des Alltäglichen verlassen wird, um ihr Zeit und Raum zu widmen und sie nicht auf ein leicht konsumierbares Nebenher zu reduzieren. Aber: Wir Kunstschaffenden sollten uns diese Frage gar nicht stellen. Ein anbiederndes Hinunternivellieren von Kunst, um Menschen „dort abzuholen“, wo man sie selbst etwas überheblich vermutet, wird am Ende wenig bringen. „Das Volk ist nicht tümlich“ (Brecht), und auch Shakespeare hat beim Produzieren seiner Stücke wohl vor allem an ein zahlreiches (und zahlendes) Publikum gedacht. Hochkultur, die primär als Attribut sozialer Distinktion wahrnehmbar ist, kann nicht mehr als zeitgemäß gelten. Alle Institutionen, die – im soziologischen Gegensatz beispielsweise zu Subkultur oder Volkskultur – unter den Begriff „Hochkultur“ fallen, wie Museen, Opernhäuser und Theater, sind angehalten, neue Publikumsschichten zu gewinnen. „Splendid isolation“ würde den Weg in die Zukunft rasch zur Sackgasse machen.


Kunst – in meinem Fall konkret Theater und Literatur – darf, soll, muss intelligent, verbindlich und mit Haltung gemacht und an den Zuschauer als Zoon politikon adressiert sein. Aber das muss nicht zwingend mit tagespolitischen Parolen einhergehen. Dass sich Theater politisch auch im Sinn affirmativer Propaganda missbrauchen lässt, ist hinlänglich bekannt; die Bühne darf nicht indoktrinieren. Theater sollte den Zuschauer nicht einlullen, sondern ihn wach, mit neuen Fragen (an sich selbst) und mit der Lust am Hinterfragen entlassen.


Im Spielplan spiegelt sich weniger meine persönliche Meinung, sondern mehr jene des Theaters zur Welt. Mal ganz konkret, wie in Jelineks „Die Schutzbefohlenen“, mal ganz poetisch, wie derzeit in Handkes „Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße“. Politik beginnt beim Handeln oder Nichthandeln jedes Einzelnen.


Die Menschen sollten die Welt verändern. Wenn die Kunst ihnen dafür Anregungen liefert, ist viel erreicht. Aber (siehe oben): Kunst ist nicht per se unschuldig.

Sven-Eric Bechtolf

Intendant der Salzburger Festspiele seit 2015.

Bevor ich detailliert antworte: Woher soll ich wissen, was Kunst muss? Meiner Ansicht nach muss Kunst nichts. Denn in Abwandlung von Heideggers „das Nichts nichtet“, „kunstet die Kunst“, und es ist dabei gleichgültig, ob ihre Hervorbringungen gebraucht, gewünscht, zeitgemäß oder nützlich sind. Das entscheidet am Ende das Publikum, und auch das kann irren. Die Kunst ist allerdings, wenn sie sich zu sehr auf ihre Verwertbarkeit konzentriert, bald einmal ein Symptom der Krankheit, die sie zu diagnostizieren oder gar zu therapieren meint. Da wir alle mitsamt Zeitgenossen sind, ist die Kunst bzw. sind die Hervorbringungen von Künstlern, die in diesem Augenblick leben, zwangsläufig „zeitgemäß“. Wer soll denn bestimmen, was der Zeit gemäß ist? Vielleicht sitzt auf einem schroffen Berg ein(e) einsame(r) MahnerIn, der oder die uns in bezaubernden Worten die Leviten liest, und zwar höchst unzeitgemäß. Ich kann nicht entscheiden, ob der oder die hinter dem Mond lebt oder „mittenmang“, wie man in Deutschland sagt, also mittendrin. Und seien wir ehrlich, wie viele KünstlerInnen laufen herum, die in der Lage sind, sachdienliche Hinweise für die Behebung von Übelständen zu liefern? Die Fähigkeit, die Welt in düsteren Farben zu sehen, hat doch inzwischen jede/r. Bei den meisten führt dies auf dem direkten Weg in den Bioladen, aber nur wenige sind in der Lage, die Welt auch in den düstersten Farben zu malen! Die Frage ist doch wohl, ist Kunst auch Kunst, wenn die anderen es nicht finden? Meiner Ansicht nach ja. Aber wie waren nochmals die Fragen? Ach so.

Das Wort Hochkultur legt nahe, dass es auch eine Niederkultur oder Tiefkultur gibt, eigentlich ein Widerspruch in sich. Aber da inzwischen sogar Unternehmen eine „Unternehmenskultur“, manche sogar eine „Unternehmensphilosophie“ haben, ist der Begriff ganz stimmig. Die Tiefkultur ist in 97% aller Fernsehkanäle 24 Stunden am Tag zu bestaunen. Die ist unbedingt zeitgemäß, aber völlig überflüssig. Hochkultur ist selbstverständlich nicht zeitgemäß, aber dringend notwendig. Die Begriffe „zeitgemäß“ und „Hochkultur“ sind zugleich so unpräzise wie aufgeladen, dass man die Frage eigentlich nicht beantworten kann.


Kunst kann und darf politisch sein, sie soll oder muss es aber nicht. Soll ich jetzt aufhören, Rilke zu lesen wegen eines Freihandelsabkommens mit Neuguinea?

In meinem Spielplan spiegelt sich das „Kann und Darf“ wider, aber nicht das „Soll und Muss“. Das beschränkt sich übrigens nicht nur auf meinen Spielplan.


Ja, unbedingt. Natürlich nicht, wie sie sich das selbst vorstellt. Das sind doch sehr verschlungene Wege, auf denen irgendwelche Dinge in das Bewusstsein tröpfeln und sich dann in Zeitgeist oder Ungeist niederschlagen. Wenn wir die Geschichte betrachten, dann erscheinen uns seltsamerweise die Erzeugnisse der Kunst wesentlicher als alle politischen, wirtschaftlichen und sonst wie gearteten Verwerfungen und Entwicklungen. Wenn in 100 Millionen Jahren die ersten Marsmenschen über unseren von Neutronenbomben entvölkerten Erdball gehen, werden sie vermutlich nicht über die Buchhaltung der Vereinigten Sparkassen staunen, sondern über Rembrandt und Bach und von mir aus die Beatles.

Dominique Meyer

Seit 2010 ist er Direktor der Wiener Staatsoper.

Zum einen ist die Hochkultur wie eine Brille, die uns die Vergangenheit näher bringt und uns dadurch auch hilft, unsere Gegenwart zu reflektieren, zu analysieren und zu verstehen. Somit sehr zeitgemäß. Zum anderen ist Hochkultur aber auch selbst ein Ergebnis von Entwicklungen in der Gesellschaft. Und es gab im Lauf der Geschichte immer eine dialektische Verknüpfung zwischen der Hochkultur und der jeweiligen Gegenwart: Künstler schaffen in ihren Werken – hier deutlicher, dort weniger offensichtlich – Verbindungen zu Phänomenen ihrer Zeit. Schließlich: Große Kunst, quasi das Idealprodukt der Hochkultur, ist zeitlos und somit zu jeder Zeit zeitgemäß. Oder jedenfalls nicht unzeitgemäß.

Es gibt viele Kunstwerke, die sehr politisch im engeren Sinn sind. In der Oper, um nur ein Beispiel zu nennen, „Le nozze di Figaro“. Kunst kann dabei helfen, eine politische Situation zu verstehen, Zustände und Entwicklungen zu kritisieren oder aktiv zu propagieren. So ist im „Figaro“ das prärevolutionäre Element ein wesentlicher Aspekt. Wenn dieser in einer Bühnenproduktion nicht zu sehen und zu hören ist, bleibt nur Vaudeville übrig – „Figaro“ ist aber viel mehr. Ich habe nichts dagegen, wenn in einer Neuinszenierung, als Transposition ins Heute, Parallelen zwischen einer politischen Opernfigur und einem zeitgenössischen politischen Exponenten hergestellt werden, etwa als Karikatur. Zwang besteht allerdings aus meiner Sicht keiner. Schwierig finde ich es, wenn einem Stück eine politische Aussage künstlich oktroyiert wird.

Meine persönliche Meinung findet sich sicher nicht im Spielplan wieder. Ich erstelle ihn für die Zuschauer. Wir Direktoren und Intendanten sind Ermöglicher: In unserem reproduzierenden Kunstbereich können Künstler ihren Zugang und dadurch auch ihre Sicht auf ein Werk ausdrücken. Dabei deckt sich meine Meinung sicher nicht immer mit jener des jeweiligen Künstlers.

Es ist natürlich ein Traum, dass Kunst die Welt zum Besseren verändert. Und dieser Traum wird sicherlich oft wahr. Bei aller Positivität darf man aber nicht vergessen, dass es in der Geschichte Momente und Perioden gab, da Kunst missbraucht wurde, dazu beitrug, die Welt eher zum Schlechteren zu verändern. Denken wir an die Nazi-Zeit mit ihren Opfern und Tätern auch im Bereich der Kunst, an die „entartete Musik“ verfemter Komponisten einerseits, an Propagandakunst ideologischer Aushängekünstler andererseits – Phänomene, die in verschiedenen Diktaturen der Vergangenheit und Gegenwart wiederkehren. Es ist Illusion zu glauben, ein großer Künstler sei zwangsläufig ein ausgezeichneter Mensch. Er kann aber ethisches Vorbild sein, kann gute Ziele verfolgen und so ein Stück weit die Welt zum Positiven verändern. Denken wir an Daniel Barenboim, der sich mit seinem West-Eastern Divan Orchestra für Frieden im Nahen Osten einsetzt. Oder an Juan Diego Flórez, der mit dem Projekt Sinfonia por el Perù benachteiligte Kinder seines Heimatlandes unterstützt. Kunst kann also die Welt positiv verändern: sei es, indem durch sie Mittel für Menschen in Not generiert werden, sei es durch ihre Botschaft oder ihre direkte Wirkung – als Bereicherung, als Trost, als Erbauung, als Freude.

Anna Badora

Seit 2015 ist sie Direktorin des Wiener Volkstheaters.

Wie immer man auch den Begriff definiert: Hochkultur als Anspruch ist für mich der intellektuelle Maßstab, an dem sich die Gegenwart messen lassen muss und der uns historische Orientierung – im Moment so wichtig wie selten zuvor – geben kann. Es käme einer zivilisatorischen Verwahrlosung gleich, Hochkultur nicht zu pflegen. Es muss für jeden Menschen, besonders auch für bildungsferne Schichten, das Angebot zur Nachfrage bereitgehalten werden, sich etwa den Weg der Theaterdramen von Aischylos über Shakespeare bis zu zeitgenössischen Autoren zu erschließen, um zumindest exemplarisch zu erfahren, woher wir kommen, zu wissen, warum wir im Abendland die sind, die wir sind, und in welcher Welt wir jetzt leben. Theaterstücke können dem Zuschauer aber auch eine ästhetische und existenzielle Ahnung davon geben, wie tief menschliche Existenz empfunden, gelebt, gestaltet werden kann. „Hochkultur“ ist überaus zeitgemäß. Darum tut der Staat auch gut daran, dieses vielfältige Angebot für alle an Hochkultur Interessierte durch verlässliche finanzielle Unterstützung sicherzustellen, auch wenn wir wissen, dass wir nur das Angebot, kaum aber die Nachfrage steuern können.


Politisch sind am Theater nicht nur aufgegriffene Themen, sondern auch das Spielerische: Grenzen verrücken.

Der Spielplan des Volkstheaters weist uns als Forum für gesellschaftliche Auseinandersetzung aus. Das ist bereits politisch. Neben Stückentwicklungen zu aktuellen Fragen, wie in „Lost and Found“ von Yael Ronen zum Thema Migration, findet sich ein Projekt vom Jungen Volkstheater für junge Bürgerinnen und Bürger, gespielt von Zwölf- bis 17-Jährigen aus neun Herkunftsländern über Zukunftsfragen. Deren Sehnsucht nach einem Ausblick nach oben überprüft die Funktionsweise von Demokratie und wirft die Frage auf, inwieweit jeder und jede am gesellschaftlichen Reichtum partizipieren kann.

Ich möchte jetzt gern antworten: unbedingt, und zwar in der Weise, dass Theater Bewusstsein bildet und verändert. Mit verändertem Denken fangen Veränderungen an. Einen Nachweis aber, dass zum Beispiel Bertolt Brechts sozialkritische Stücke, die von Millionen Menschen in aller Welt gesehen worden sind, die Menschen, die Gesellschaft, die Politik, auch nur ein wenig besser gemacht haben, ist schwer zu führen. Trotzdem bin ich überzeugt, dass kaum ein Mensch einen Theatersaal genau so verlässt, wie er ihn betreten hat.

Jürgen Flimm

Intendant der Berliner Staatsoper Unter den Linden seit 2010.

Mal eine Gegenfrage zum allgemeinen Verständnis: Gibt es eine Niedrigkultur, und wenn ja, wie sieht es da unten aus? In der flachen Ebene des Bedeutungssumpfes: tumb und schmutzig? Oben hui und unten pfui? Zweifellos gab es in den frühen 1950ern, noch im Schatten des gloriosen 1000-jährigen Reiches, eine naserümpfende, fracksteife Hochgesellschaft, die wilden Jazz und anarchischen Rock so sehr verachtete, dass ihnen die Magensäure aus den Ohren blies. Auch solche Schmutzfinken wie die Blutmystiker Nitsch und Mühl, Tinnitusästheten wie die Tonsetzer aus Darmstadt, elektronische Schreihälse und Harmonieverdreher . . . Oder solche Fett- und Filzpropheten wie Herr Prof. Beuys . . . Oder der verdrehte Ideologe eines Körpertheaters mit seinen asiatischen Gerüchen wie Herr Grotowski . . . Alle damals – apage satanas – in Acht und Bahn geschlagen, Nitsch saß sogar ein! Solch ekliger Schmutz auf hehre deutsche Kunst, die damals so langweilig war wie ein Bettlaken vor der Orgie auf Schloss Prinzendorf. Damals also die Nase gerümpft, heut hoch gehoben in einem Atem mit solchen Kulturhelden wie Mozart, Bach, Beethoven, Rodin, Rubens, Reinhardt, Lüpertz, Kiefer, Rihm, Nono, Sciarrino . . . Hoch und niedrig, so ein Blödsinn! Alles ist da, alles erscheint, manches bleibt, anderes vergeht. Manches wird schön, anderes hässlich, alles freilich im weitherzigen Bezirk der Kultur und herrlichen Gefilden. Und immer schwimmt die Zeit davon.

Als Aischylos' Tragödie „Die Perser“ 472 v. Chr. aufgeführt wurde, konnte der Dichter nicht ahnen, was er damit anrichtete. Es war wohl das erste Stück Theater, das uns überliefert ist, und dann solch ein radikaler Text, der Maßstäbe für ein und allemal setzte, für jede ästhetische Erscheinung. Ausgrenzend nennen wir es politisches Theater. Kannte Aischylos schon eine griechische Fassung des 3. Mose 19, Vers 18, des alten jüdischen Buches der Weisheit, der Bibel: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“? Diese wirkliche Botschaft, Kern allen politischen Handelns unserer abendländischen Kultur, die ihren Ursprung im mesopotamischen Zweistromland hat, das heißt heute Naher Osten. Und manch dummer Schreihals sollte sich sehr klarmachen, woher eigentlich diese Weisheit kommt! Die Griechen hatten dereinst die persische Flotte bei Salamis vernichtend geschlagen. Aischylos, der Grieche, beschreibt in diesem ursprünglichen Antikriegsstück den Untergang des Reiches des großen Königs Xerxes. Aischylos beschreibt den Untergang der Gegner, von Empathie und Mitleid geprägt: „ . . . wie dich selbst!“ Das war wohl die Geburt einer langen Kette von Stücken bis hin zu Brecht, Heiner Müller, von Opern von Monteverdi, Mozart, Rihm und Nono. Die Revolutionen haben sich auf den Theatern nie eingefunden. Manifeste stehen auf dem Papier und sind Abzüge für die Zukunft. Das Theater, die Oper sind die reinsten Ereignisse einer Gegenwart, die so schnell verfliegt, wie das Tausendstel eines Wimpernschlags. Die Reflexion der anderen, die Aischylos stiftet, zeigt diese im eigenen Spiegelbild, eine geniale Dramaturgie. Das ist politisches Theater sui generis.

Auch Kunst ist also politisch, weil sie die Sprache der Gesellschaft ist, immer der Aufklärung verpflichtet. Wohl nicht im Sinn der cathedra, aber mitten im Sinn der Herzen. Spielpläne sollen die Bestrebungen der Zeiten wiedergeben, in denen wir leben. Regisseure, Dirigenten, Musiker, Schauspieler sollen ferne Zeiten in unsere heutigen Sprachen übersetzen, durch das Spiel, auch durch das Beispiel. So wird es politisch, weil es oft aus weiter Ferne heute zündet.

Kunst verändert nicht die Welt, aber doch das Bewusstsein von ihr. Kunst verändert Denken und Fühlen unserer Welt durch ihre verschiedenen Erscheinungsformen, die uns alle im Zentrum bewegen. Welcher Reichtum der Anschauungen hat sich uns angehäuft. So hoch wie der Turm von Babel und auch so chaotisch.

Barbara Frey

Seit 2009 Intendantin des Schauspielhauses Zürich.

Zeitgemäß kann nur sein, was sich auch mit der Tradition beschäftigt, mit dem kulturellen Erbe, bei gleichzeitiger Auseinandersetzung mit der Welt, wie sie sich heute zeigt. Das gilt für das gesamte kulturelle Schaffen. „Hochkultur“ ist ein belasteter Begriff, weil er im heutigen Gebrauch oft einen elitären Anstrich hat, was mit der Instrumentalisierung der Kultur durch die Politik zu tun hat. Wo zum Beispiel Geld gespart werden soll, muss die Hochkultur zu etwas Abgehobenem, Elitärem gemacht werden, um den Spardruck zu legitimieren. Das vermeintlich Abgehobene als das moralisch Verwerfliche, das sozial Ungerechte. Das hat eine durchaus zynische Note, denn in letzter Konsequenz würde es bedeuten, dass es keine Notwendigkeit für herausragende künstlerische Leistungen mehr geben soll; für eine anspruchsvolle und komplexe Auseinandersetzung mit der Welt, wie sie die Künste zu leisten imstande sind. Die eigentliche Frage lautet eher: Ist eine Politik zeitgemäß, die die Kultur, und damit auch die Hochkultur, für ihre eigenen Versäumnisse in Haft nehmen will?


Auch der Begriff der „politischen Kunst“ wird arg strapaziert, womöglich gerade, weil er schwer fassbar ist. Was misstrauisch macht, ist der Legitimationsdruck, der heute auf den unterschiedlichsten Künsten liegt und der bisweilen zu einer Verengung der Sicht auf deren Möglichkeiten führt. Alle Kunst kann nur in einem Umfeld gedeihen, das freies Denken und Handeln ermöglicht und ohne Imperative auskommt.


Als Intendantin eines Schauspielhauses weiß ich, dass man Theaterstoffe nicht verordnen kann, sie müssen im Austausch, in offener Diskussion gefunden werden. Da ist die Suche nach der Dynamik der Gegenüberstellung von traditioneller Theaterliteratur mit neuen Sichtweisen genauso wichtig wie das Erkennen der Interessen der einzelnen am Theater tätigen Künstler. Es kann weder eine Grundrezeptur für Spielpläne geben, die zwischen Berlin, London, Zürich und Wien dieselbe wäre, noch eine, die festlegt, ab wann Theater politisch ist.


Im „Weltveränderungsanspruch“ liegt etwas Totalitäres, weil er immer voraussetzt, man wisse genau, wie die Welt zu verbessern sei. Wohin das führen kann, zeigen die politischen und wirtschaftlichen Katastrophen der Vergangenheit und der Gegenwart. Was Kunst kann, ist, unsere Wahrnehmung herauszufordern und zu schärfen und damit die Grundlage für Möglichkeiten der Veränderung zu schaffen. Kunst ist hochkommunikativ, sie verlangt unnachgiebig nach unserer Aufmerksamkeit und unserer Fähigkeit, die Welt zu hinterfragen. Der blinde Wachstums- und Optimierungsanspruch des kapitalistischen Wahns aber taugt für keine Kunstform.

Peter Ruzicka

Geschäftsführender Intendant der Osterfestspiele Salzburg seit 2015.

Nur ein kleines Aperçu zu der von Ihnen aufgeworfenen Fragestellung nach der Teleologie der Kunst: Die Welt verändern können Wissenschaftler, Politiker, Revolutionäre. Sie greifen in den Weltlauf ein, bewirken historische Veränderungen, die für Generationen wirksam sein mögen. Kunst vermag freilich im politisch-gesellschaftlichen Sinn nichts zu verändern. Sie kann die Wirklichkeit nicht abbilden, was Voraussetzung solcher Veränderung wäre. Und doch bilden ihre kreativen Prozesse einen Nährboden, auf dem sich Veränderungen des Denkens und Handelns entwickeln können. Ohne dieses gesellschaftliche Substrat der Kunst, ohne diesen Nährboden der künstlerischen Sichtweise, verliefen alle Weltveränderungsprozesse in dieselbe Richtung, nämlich in Richtung Abgrund. Kunst ist eine stets erneuerbare Energie, die ein Gegengewicht zum geistlosen Weltlauf, zum systemimmanenten Versagen darstellt, ein ästhetisches Mittel zur Differenzierung und Urteilsschärfung, das uns helfen kann, Entwicklungen besser zu begreifen und unsere Weltwahrnehmung zu steuern.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.03.2016)

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