André Heller: "Mein Vater hat mich gestreichelt wie einen Hund"

(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Der Künstler André Heller kontert Nostalgievorwürfe gegen sein "Buch vom Süden", geißelt SPÖ, ÖVP und ein bisschen sich selbst - und erzählt von seiner immer kalten Kindheit.

Herr Heller, Ihr „Buch vom Süden“ erinnert im Stil an eine versunkene Zeit, an alte österreichische Schriftsteller wie Doderer oder Herzmanovsky-Orlando. Die einen werden es wohl gerade deshalb gern lesen, andere es befremdlich, künstlich finden . . .

André Heller: Aber das bin ich. Ich bin aus einem Material gemacht, das offensichtlich nicht mehr erzeugt wird. Ich bin in einem Biotop aufgewachsen, in dem es noch die verarmten Offiziere aus dem Ersten Weltkrieg als Tanz- und Bridge-Lehrer gab, in dem die Briefe von Joseph Roth, die mein Vater wie Reliquien aufbewahrte, immer wieder laut gelesen wurden. In dem man eine vollkommene Gegenwart einer anderen Gegenwart gespürt hat, die ringsum nirgends Geltung hatte. Das ist nichts Nostalgisches oder Rückwärtsgewandtes! Das war meine erlebte, erlittene, lieb gehabte, verachtete Dauerwirklichkeit.

Schon Ihre Kindheit nach dem Zweiten Weltkrieg, als Sohn des vertriebenen jüdischen Schokoladefabrikanten Heller, war vom Sich-überlebt-Habenden geprägt. Ihr Romanheld Julian Passauer, Sohn des stellvertretenden Direktors des Naturhistorischen Museums, lebt in einem Trakt des Schlosses Schönbrunn und ist unter Gleichaltrigen ein Außenseiter. Waren Sie das auch?

Ja. Einige meiner Mitschüler in der Volksschule lebten als ausgebombte Obdachlose in Zelten, in einem zerstörten Schloss am Küniglberg. Als ich einmal meinem Vater mitteilte, ich will auch in einem Zelt leben, habe ich eine unglaubliche Ohrfeige dafür bekommen! Ich besaß kein Zugehörigkeitsgefühl. Und ich war viele Jahre vergeblich auf der Suche nach einem ähnlich gestimmten Freund, damit wir uns gegenseitig trösten können. Im Internat Kalksburg habe ich mich in der Freizeit in einen aufgelassenen Aufzug gesetzt und gelesen. Häufig mit der schönen Einbildung, mein Lieblingskomponist Schubert würde mich beschützen.

Kommt von daher die Vorstellung Ihres katholisch erzogenen Romanhelden, dass man die Sünden erlassen bekommt, wenn man einen Künstler berührt?

Bei mir war es so, dass ich jeden Tag in der Früh in die Messe gehen und zu irgendwelchen Heiligen beten musste, deren Sinn und Zweck sich mir nicht erschloss. Also dachte ich, wenn ich schon beten muss, bestimme ich mir meine liebenswerten eigenen Heiligen: Ein ganz wichtiger früher war für mich Picasso, der erschien mir als idealer Spielkamerad mit seinen schier unendlichen künstlerischen Fähigkeiten. Dann gab es noch andere. Den heiligen Fischer von Erlach zum Beispiel und den heiligen Hugo von Hofmannsthal. Im Jesuiteninternat war ja zweihundert Meter entfernt von einem Ausgang das Hofmannsthal-Schlössl. Wenn's allzu unerträglich geworden ist, bin ich dorthin ausgebüxt und habe mich an die Mauer gelehnt. Hofmannsthals Sprachmelodie war wie ein eleganter Pelzmantel, in dem ich gern übernachtet hätte.

Wie ein Pelzmantel – brauchten Sie als Kind denn gar so viel Wärme?

Mir war immerzu äußerlich wie innerlich kalt. Ich hab mir, auch wenn's schwer zu glauben ist, von meinem ersten Taschengeld einen Thermophor gekauft.

Ihr Held Julian Passauer wird als „fleißiger Taugenichts“ charakterisiert, auch anderes wie die Reise in den Süden erinnert an Eichendorffs „Aus dem Leben eines Taugenichts“. Dort schmeißt der Müllervater den Sohn raus, der Vater Ihres Helden ist wohlwollender. Wie war Ihrer?

Weder der Vater noch die Mutter im Roman ähneln meinen Eltern.

Ihr Vater lebte ja nicht mit Ihnen, sondern in Frankreich. Wie oft haben Sie ihn gesehen?

Zu oft. Drei, vier Mal im Jahr. Das war unbarmherzig. Einschüchternd und bedrohlich.

Ihre vielen französischen Vornamen haben aber mit ihm zu tun, oder? Francis Charles Georges Jean André . . .

Viele Vornamen waren früher die Normalität, es musste ja diversen Onkeln geschmeichelt werden. Mein Taufpate sollte eigentlich der Franz Léhar sein, der ist dann krankheitshalber nicht angereist. Als Einspringer fungierte ein tschechischer Botschafter, der auch Franz hieß. Und bei meiner Geburt hatte ich einen französischen Pass, weil mein Vater nach seiner Flucht aus den Nazi-Klauen französischer Staatsbürger wurde. Mein Vater hatte, glaub ich, zunächst die Vorstellung, dass wir alle in Frankreich leben würden. Aber dann entschied er sich für Paris und wir wurden nach Österreich verbannt.

Warum?

Weil er eine völlig unkontrollierte Unabhängigkeit vielfältig auskosten wollte.

Jetzt haben Sie Ihren gigantischen Garten „Anima“ in Marokko eröffnet, einer einstigen französischen Kolonie. Was haben Sie als Kind mit dem Französischen assoziiert?

Als ich sechs wurde, ist mein Vater eines Tages mit mir in eine Swiss-Air-Maschine eingestiegen. In Zürich sind wir gelandet, da hatten wir ein Treffen im Kaffeehaus mit seinem Spezi Alfred Polgar. Dann sind wir völlig stumm weitergefahren, in einen kleinen Gebirgsort: Les Ciernes. Ich hatte keine Ahnung, warum. Er hat mich zu einem großen Chalet geführt neben einer Kirche, und mich einer Schwester mit Schwanenhaube übergeben, ohne die Schwelle zu überschreiten. Nur am Kopf hat er mich kurz gestreichelt wie einen Hund und ist weg, entschwunden. Ich war vollkommen devastiert, in einem Land, dessen Sprache ich nicht gesprochen hab, mit Menschen, die ich nicht kannte, in einer katholischen Zuchtanstalt. Das war meine erste Berührung mit dem Französischen.

Bei Ihrer universalen Schaffensfreude könnte man sich erwarten, dass Sie gleich dutzendfacher Vater seien. Sie haben einen Sohn . . .

Ah, eine von Ihnen festgestellte Unterlassungssünde . . . Ich hab mich gegen Kinder gewehrt, weil es keine Garantie gab, dass ich nicht auch so ein entgleister Vater werde wie der meine. Gottlob war das ein vollkommener Blödsinn. Und jetzt ist der Ferdinand da, und wird 28, und jeder Tag, jede Stunde, die ich mit ihm verbracht hab, ist das Beste, was mir passieren konnte. Und es gibt auch einen Enkel, der ist viereinhalb – das ist eine Fortsetzung dieses Glücks ins Uferlose. Wenn mir Cherubinen verkünden würden, „es kann nur der Ferdinand oder du überleben“ oder „wähle zwischen deinem Enkel und dir“, wäre die Angelegenheit ohne Zögern gegen mich entschieden.

Zurück zum Garten. In Ihren Gärten, in der Realität wie im Roman, ja überhaupt im Roman spielen Düfte, Gerüche eine große Rolle. Üblicherweise wird im Leben, finde ich, gerade der Geruchssinn sehr unterschätzt.

Ja, daran scheitern wahrscheinlich 30 Prozent der Beziehungen! Darüber wird viel zu wenig geredet. Meine allererste Erinnerung ist übrigens ein Geruch, ein Keksduft in unserem Landhaus in Niederösterreich. Man hat mir gesagt, daran kannst du dich unmöglich erinnern, du warst noch zu klein. Aber es muss stimmen. Denn das Haus wurde verkauft, als ich erst dreieinviertel war.

Eine feine Idee im Roman finde ich das Nasentheater, mit dem die Mutter den Sohn Gerüche raten lässt . . .

Das gab es in meinem Leben wirklich, es war eine Erziehungsmaßnahme meiner Großmutter. Sie wollte fördern, was sie in mir als besonders wahrgenommen hat. So durfte ich mit geschlossenen Augen lernen, wie Moos riecht, Muscheln oder Hirschleder, aber auch, wie es sich anfühlt, wenn ein Stück Bernstein in der Hand liegt oder eine Brosche von Kolo Moser . . . Ohne sie wär ich untergegangen. Sie war die Einzige in meiner Umgebung, die zu Zärtlichkeiten fähig war.

Wo hat sie gelebt?

In Gutenstein. Sie war nach einem sehr mondänen Leben mit dem einfachen, Albert-Schweitzer-haften Gemeindearzt von Gutenstein verheiratet, der ein Glasauge hatte, das er gelegentlich provokant in die Suppe fallen ließ. Gutenstein war für mich quasi exterritoriales, gesegnetes Gebiet, auch durch den dort begrabenen Ferdinand Raimund, meinen Theater-Heroen. An seine Vorstellung von Welt hinter der Welt, mit Geistern, Genien, Zauberwesen, glaub ich heute noch in veränderter Form.

Weniger schön, aber nötig – eine Frage zur aktuellen Politik: Über wen ärgern Sie sich derzeit am meisten?

Eines hat überhaupt keinen Sinn: beleidigt zu sein auf die FPÖ. Man sollte wissen, dass wir das Unglück dem katastrophalen Missmanagement der zwei Regierungsparteien verdanken. Das erschreckende Wahlergebnis ist nicht die Leistung von Strache und seinem Kandidaten, das ist mühsam und fleißig und beharrlich von dieser selbstzerstörerischen Weltfremdheit von SPÖ und ÖVP verursacht, von ihrem Nichtverbundensein mit dem, was sich in und bei den Menschen an Wut, Verzweiflung und Überforderung zusammenbraute. Ich sage das seit mindestens zehn Jahren. Der Herr Strache ist wie ein Mensch, der bei einem Bankomaten steht und nicht einmal eine Karte braucht, weil die anderen ihm freiwillig ihr Geld schenken.

Was empfehlen Sie jetzt?

Völlig kontraproduktiv wäre die Beschimpfung der Hofer-Wähler. Wir müssen mit guten Argumenten versuchen, viele davon auf die Seite von Alexander Van der Bellen zu ziehen. Aber das gelingt nicht mit brachialen Protestveranstaltungen gegen die FPÖ.

Sehen Sie es auch als persönliches Scheitern? Sie und viele Künstler haben lang beste Freundschaften mit der SPÖ unterhalten.

Leute wie ich, die sich viele Jahrzehnte für die Sozialdemokratie engagiert haben, müssen eingestehen, dass heute in etwa das genaue Gegenteil von dem erreicht ist, was wir anpeilten. Die Politiker haben uns immer zugehört, gekümmert haben sie sich nicht. Und wir sind mit einer gewissen Eitelkeit am Tisch der Machthaber gesessen– ohne präzise zu hinterfragen, bringt das dem Land was? Verändert das die Partei? Unter Kreisky waren die positiven Veränderungen noch grandios. Aber dann sind die Energien erst langsam, dann immer schneller und schneller schwächer geworden.

Und Marokko mit seinem König und seiner gemäßigt islamistischen Regierung ist Ihnen politisch nicht unangenehm?

Marokko ist ein faszinierendes Land der Dritten Welt, mit einem König, der weiß, dass es noch viele Veränderungen braucht. Immerhin ist es im Aufbruch.

Ein Leben lang gen Süden gezogen

„Das Buch vom Süden“ erscheint am 9. Mai im Zsolnay Verlag: André Hellers Erinnerungs- und Entwicklungsroman hat einen melancholischen Helden, Julian Passauer, der als Sohn des stellvertretenden Direktors des Naturhistorischen Museums in einem Seitentrakt des Schlosses Schönbrunn aufwächst. „Ständig auf der Suche nach Umständen, die ihn zum Blühen brachten“, und von der bereits im Vater angelegten Sehnsucht nach dem Süden beherrscht, verlässt er Österreich und wird als nomadischer Pokerspieler reich, bevor er auf einem Anwesen am Gardasee zumindest eine Zeit lang sesshaft wird und Gefährtinnen findet. Heller beschreibt die Reise eines Mannes heim zu sich selbst – und reist dabei verspielt, kunstfertig und anekdotenreich zurück in versunkene altösterreichische (Sprach-)Welten seiner Kindheit.

Der marokkanische Garten „Anima“ wurde im April eröffnet: André Heller wurzelt in Wien, pflanzt aber als Gartenkünstler seit Langem anderswo. Nahe Marrakesch kann die Öffentlichkeit nun eines der größten Projekte besuchen, die der heute 69-jährige Künstler in seinem Leben unternommen hat. Der Garten „Anima“ soll Heller zufolge eine „Rückkehr des Paradieses“ verkörpern, ein „magischer Ort der Sinnlichkeit, des Staunens, der Kontemplation, der Freude, der Heilung und der Inspiration für Menschen jeden Alters“ sein.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.05.2016)

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