Spieglein, Spieglein an der Wand

SWITZERLAND-LIFESTYLE-ART-CULTURE-BUSINESS
SWITZERLAND-LIFESTYLE-ART-CULTURE-BUSINESS(c) APA/AFP/FABRICE COFFRINI
  • Drucken

US-Künstler-Urgestein Jim Dine schenkte 230 seiner Selbstporträts der Albertina. Eine große Überraschung, wie auch die berührende Ausstellung, die daraus wurde.

Können Sie sich erinnern an diesen allerersten Blick in den Spiegel, an diesen Moment als Kind, in dem man sich erstmals selbst erkennt? Sich als eigenständiges Wesen wahrnimmt? Man war in etwa drei Jahre alt, lag vielleicht gerade unter dem Bett der Mutter und entdeckte von dort aus das gespiegelte andere Ich im Ankleidespiegel gegenüber. So ging es jedenfalls Jim Dine, der sich noch ganz genau daran erinnern kann. Nicht einmal zehn Jahr später starb die alleinerziehende Mutter. Der Sohn wuchs bei den Großeltern auf. Heute ist aus dem dreijährigen Buben ein 81-jähriger Künstler auf dem Höhepunkt seiner überaus erfolgreichen Karriere geworden.

Dem ersten Blick in den Spiegel sind Tausende gefolgt – Dine hat Hunderte Selbstporträts, ganz altmeisterlich, nach seinem Spiegelbild gezeichnet. 230 aus seinem Besitz hat er jetzt als Vorlass der Albertina geschenkt. 60 davon hat Kuratorin Antonia Hörschelmann zusammen mit dem Künstler für die Ausstellung „I never look away“ ausgesucht. Eine ungemein intensive, ungemein überraschende Schau. Kennt man Jim Dine doch sonst ganz anders, sind doch vor allem seine ziemlich kitschigen bunten Herzbilder populär geworden, ebenfalls seriell gemalt, bei denen man versteht, warum er lange Zeit in den Umkreis der Pop-Art eingeordnet wurde.

„Missverständlich“ in Zusammenhang gebracht wurde, wie in Saaltext und Katalog betont wird. Denn Jim Dine ging es nie um Oberfläche und Kommerz und Objektivität. Sondern ums krasse Gegenteil – was gibt es Intimeres, was Subjektiveres als die fast schon manische Erforschung der eigenen Tagesbefindlichkeit im Spiegel und auf dem Papier? Einer psychologischen Deutung entkommt man da fast nicht – ist es die Selbstvergewisserung, dieses „Bin ich noch immer da nach dem Tod der Mutter“? Dine hat diese Ursachenforschung selbst brennend interessiert, in vielen Therapien und Analysen hat er erforscht, was uns weiter nichts angeht.

Immer gleich – Brille, Glatze, Bart

Uns bleiben diese irren Augenblicke, wenn man immer und immer wieder den konzentrierten Blick des Künstlers trifft, den er ursprünglich auf sich selbst gerichtet hat. Klingt schräg, aber am Ende hätte man dann gern selbst einen Spiegel, um sich zu vergewissern, dass man es eh selbst noch ist, der da wieder hinausläuft in die heißen Straßen – und nicht plötzlich Glatze, Brille und Vollbart trägt. Beschönigend hat Dine sich nie dargestellt, mit schnellen Kohlestrichen, manchmal auch mit farbigen Pastellkreiden, immer frontal, meist als Brustbild, immer ernst. Nur die Augen scheinen manchmal zu lächeln. Und einmal, als alter Mann schon, singt er vor dem Spiegel ein Kinderlied; der Mund steht offen, das Gesicht, alles steht plötzlich offen bis auf die Augen, vor denen wohl gerade die Stunden unter dem Bett der Mutter vorüberziehen – wow. Es ist eine der ganz seltenen Posen, die er einnimmt. Sonst sind die Selbstporträts immer extrem nüchtern, waren es immer schon.

Ganz am Beginn, als 20-Jähriger in den 1950er-Jahren, malte er schon Köpfe, noch stilisiert, wie Kinderzeichnungen. Dann war zehn Jahre Pause. Und plötzlich, 1971, erschien auf einem sonst leeren gelben Blatt erstmals ganz klar das eigene Gesicht, fein, präzise, realistisch, aber noch unvollständig, als Fragment. Ein großartiger Moment. Es folgten, bis heute eben, viele hundert Selbstbetrachtungen. Was variiert, ist das Alter natürlich, und die Technik, die bis zur Fotografie, bis zur Vasenmalerei reicht. Der Höhepunkt aber sind die vier jüngsten, großformatigen Blätter, „Dine mit 80 in Paris 1–4“. Greise, gütig, müde, zufrieden blickt er sich selbst bzw. uns entgegen, in grandioser Rembrandt'scher Erhabenheit und Sicherheit. Gezeichnet hat er mit Kohle, schwarzer Schuhpaste und Schleifpapier, der weiße Bart ist, blickt man näher hin, aufgerautes, fast in Fetzen gerissenes Papier. Ein Alterswerk zum Niederknien.

Bis 2. Oktober. Tietze Galerien in der Albertina.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.06.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.