Die Urzelle der irren Kunst

Leidenschaftliche Aloïse: „Blühende Kuss-Szene“ in Gouache, 1947, von Aloïse Corbaz (1886–1964), einst Gouvernante am Hof Kaiser Wilhelm II., ab 1918 in psychiatrischen Anstalten in der Schweiz.
Leidenschaftliche Aloïse: „Blühende Kuss-Szene“ in Gouache, 1947, von Aloïse Corbaz (1886–1964), einst Gouvernante am Hof Kaiser Wilhelm II., ab 1918 in psychiatrischen Anstalten in der Schweiz. (c) Collection de l'art brut/Ass. Aloïse
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Das Museum Gugging zeigt in einer Art Re-Enactment den Ursprung des Art-brut-Begriffs: Jean Dubuffets erste Ausstellung nicht intellektueller Kunst in Paris 1949.

Europa war zerstört. Alles musste infrage gestellt werden. Kein Gedicht mehr nach Auschwitz, sagte Adorno. Keine Kunst mehr so, wie wir sie kannten. Auf diesen Trümmern stehend, machte sich ein malender Pariser Weinhändler bzw. ein mit Wein handelnder Pariser Maler im Juli 1945 in die Schweiz auf, um dort eine völlig neue, eine ursprüngliche, unverdorbene Kunst zu suchen. Jean Dubuffet ging in psychiatrische Krankenhäuser und Gefängnisse und knüpfte Kontakte mit Ärzten und Psychiatern, die nicht wie die meisten ihrer Kollegen wegschmissen, was ihre Patienten zeichneten. Jedenfalls nicht alles.

Der Genfer Arzt Dr. Ladame etwa, der sogar ein kleines Museum in seiner Anstalt eingerichtet hatte, das Dubuffet besuchte; er bekam fast 40 Arbeiten geschenkt, u. a. wunderbar naive Buntstiftbilder einer gewissen Berthe Urasco. In Waldau bei Bern entdeckte er das große Werk von Adolf Wölfli wieder, das der Arzt Walter Morgenthaler bewahrt hatte, in Lausanne lernte er Aloïse kennen, die u. a. mit Zahnpaste und Blättersäften ihre Liebespaare zeichnete. Dubuffet war begeistert, er reiste und sammelte die nächsten Jahre unermüdlich, fast manisch, fast wurde ihm selbst sein Einsatz für die damals noch völlig negierte Kunst der Außenseiter zu viel; nur die Surrealisten hatten sich vor dem Krieg schon für sie interessiert, aus ihrem Umfeld kam Dubuffet. Er jedoch ging die Sache systematisch an.

Er gab der Sache vor allem einen Namen, Art brut, rohe Kunst, gründete eine Gesellschaft zu ihrer Förderung und blies 1949 in der Pariser Galerie René Drouin zum Angriff auf die etablierte, erlernbare, berechnende und berechnete, sprich intellektuelle Kunst: „Art brut: Vorzüge gegenüber der kulturellen Kunst“ hieß das Manifest zur Ausstellung von 200 Arbeiten von 63 Künstlern aus seiner Sammlung. Diese Schau gilt als Geburtsstunde der Art brut. Und auch als Geburtsstunde aller begrifflichen Probleme, die seither damit einhergehen. Im Museum Gugging kann man versuchen, diesen Moment, diesen Schock nachzuvollziehen: Gezeigt wird ab heute die Rekonstruktion dieser historischen Ausstellung, ein Gastspiel der „Collection de l'art brut“ in der Stadt Lausanne, der Dubuffet 1971 seine Sammlung geschenkt hat.

Kinderbilder? Keine „rohe Kunst“

Erstes Missverständnis: Im ersten Raum sind noch Kinderzeichnungen und naive bzw. folkloristische Werke zu sehen, die Dubuffet anfänglich ebenfalls unter Art brut ausstellte. Später differenzierte er, führte den Begriff künstlerisch enger, auf ein radikales, aber bewusstes Kunstschaffen hin, nämlich von Menschen, die am Rand der Gesellschaft stehen, ob Außenseiter oder geistig krank oder beides. „Outsider Art“, wie sie in den USA genannt wird, trifft es wohl besser als Dubuffets Art brut, bei der automatisch Wahn und Irresein im Vordergrund stehen.

Die Ausstellung zeigt, wie künstlerisch eigenständig, auch ohne Biografien, diese mittlerweile historischen Werke heute stehen. Vor allem überraschen die verhältnismäßig vielen Künstlerinnen, die Dubuffet damals ausstellte. Das leider nur in geringem Maß erhaltene Oeuvre von Jeanne Tripier zum Beispiel, die in den 1930er-Jahren spinnennetzartige Stickereien schuf, die an Louise Bourgeois erinnern, und gestisch-abstrakte Bildchen mit schwarzer, violetter, blauer Tinte, in die sie Haartönung, Nagellack oder Zucker mischte. So fein, so voll Energie – sag niemals „rohe Kunst“ dazu!

Das Rebellentum, das mit dieser Ausstellung einst verbunden war, verpuffte spätestens mit der Biennale Venedig vor vier Jahren, als Kurator Massimiliano Gioni in einer beeindruckenden Durchmischungsaktion die Outsider endgültig zu Insidern, Irrenkunst endgültig zu irrer Kunst machte. Der Grundstein dafür wurde 1949 in der Pariser Galerie Drouin gelegt. Zwei historische Momente. Jetzt hat man in Gugging die Chance, sagen zu können, man hat sie beide erlebt.

„Jean Dubuffets Art brut“. Bis 2. Juli, Di–So, 10–17h, Museum Gugging, Am Campus 2, Maria Gugging.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.01.2017)

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