Schiele in der Albertina: Sex und Spiritualität

Existenzielle, spirituelle Posen: „Selbstbildnis in gelber Weste“, 1914.
Existenzielle, spirituelle Posen: „Selbstbildnis in gelber Weste“, 1914.(c) Albertina
  • Drucken

Nach zwölf Jahren zeigt die Albertina wieder ihren Kernbestand an Schiele-Zeichnungen. Jedes Mal ein bewegendes Erlebnis. Diesmal verknüpft mit den jüngeren Erkenntnissen zu Schieles Identifikation mit dem Hl. Franziskus.

Egon Schiele war ein großer Maler. Aber er war ein großartiger Zeichner, einer der berührendsten und radikalsten der Moderne. Wenn die Albertina also den Kernbestand seines zeichnerischen Werks aus dem Depot holt, alle zehn, 15 Jahre, ist das ein Ereignis, das man mit Achtsamkeit verfolgen sollte. Zum zweiten (und zumindest als Direktor letzten) Mal hat Klaus Albrecht Schröder jetzt als Kurator die Richtung der aktuellen Schiele-Lesart vorgegeben. Wir erinnern uns: 2005 tat er das mit einem Großaufgebot von 220 Werken, These damals war, Schiele als seriellen, performativen Künstler vorzustellen.

Diesmal hat Schröder es mit „nur“ 160 Werken, davon 20 Leihgaben, konzentrierter, dadurch natürlich auch ein wenig manipulativer in Richtung seiner Thesen angelegt: Diesmal soll Schieles spirituelle Seite betont werden, soll sich der für Schröder immer noch dominanten Lesart Schieles als erotischer Schweinigel entgegenstemmen. Das sei durchaus tendenziös, gibt Schröder zu, etwa wenn die (bekleideten) Porträts von Armenkindern die immer noch provokanten Mädchenaktbilder überwiegen. Wenn auch nicht ausblenden. Und das ist wichtig, so kann der Blick tatsächlich gelenkt, aber nicht getäuscht werden.

Um 90 Grad gedreht

Gelenkt also darauf, dass die künstlerisch wesentlichen Mädchenakte Bilder von ungeheurem existenziellen Zwang sind in ihrer formalen Einengung, ihrer Verstümmelung, ihrer Säulenhaftigkeit und ihrer Einsamkeit. Sie schweben im Nichts, keine Accessoires, kein angedeuteter Hintergrund, nichts hält sie. Dieser verlorene Halt des Menschen an sich spielt eine stärkere Rolle als bisher gedacht, Schröder präsentiert einige Blätter um 90 Grad gedreht, also gegen die Schwerkraft vielleicht, zum Beispiel beim Bild der eigentlich liegenden Mutter Schieles, aber im Sinne von Schieles Signatur, deren Lesbarkeit laut Schröder auch die Lesbarkeit des Motivs vorgibt. Was einen interessanten Effekt hat, die Körper erhalten einen unnatürlich wirkenden Drall, einen Zug hinauf, der sie wie barocke Heilige bei der Apotheose wirken lässt.

Womit wir beim Kern der Schiele-Schau dieses Jahrzehnts angelangt wären, der Spiritualität. Basierend auf den Erkenntnissen des Schiele-Forschers Johann Thomas Ambrózy wird einem Schieles Identifikation mit dem um 1900 wieder vermehrt rezipierten Hl. Franziskus nahegelegt, plötzlich versteht man die vielen Kutten, in die Schiele sein kärgliches nacktes Selbst hüllt, überhaupt die auffällige Nacktheit, die seine Selbstporträts kennzeichnet; kein Künstler vor ihm hat das derart massiv ins Bild gerückt. Man denke jetzt an den Hl. Franziskus, der sein letztes Hemd, seine Kleider abwirft, vor dem Vater, der Erfolg und Gehorsam einfordert, und sich für die Armut und für Gott entscheidet. Mit Vergleichen zu Franziskus-Illustrationen, die Schiele gekannt hat, und mit der in diesem Zusammenhang plötzlich klar werdenden Titelgebung einiger bisher eher als pathetische Ausrufe gewerteten Bilder („Entsagung“, „Andacht“) erscheint diese Ikonografie fast zwingend. Ambrózys Forschungen sind in der Fachwelt zwar seit 2009 bekannt, in diesem institutionellen Rahmen aber werden sie nun wohl endgültig zum Kanon.

Den Sex mit dem Hl. Franz austreiben?

Wo der Hl. Franziskus, da ist auch die Hl. Klara nicht weit, und die Hl. Agnes. Und unweigerlich muss man an die Schwestern Harms denken, mit denen Schiele eine Menage-à-trois hatte, bevor er die eine, die jüngere natürlich, Edith, heiratete. Eine gesellschaftlich „günstige“ Heirat, wie er betonte, für die er die wilde Ehe mit seinem Modell und seiner Mitstreiterin in dunklen Zeiten, Wally, aufgab. Was man nicht kann, ist die Person und auch den Künstler Schiele in einem Film (wie unlängst), aber auch nicht in einer Ausstellung (wie dieser) fassen. Diese Person ist hochgradig ambivalent. Man kann ihm die sexuellen Geworfenheiten, Begierden, Abgründe nicht mit dem Hl. Franziskus austreiben. Ihn als pädophilen Pornografen misszuverstehen wäre allerdings noch schändlicher.

Man muss kein großer Freudianer sein, um teils wirklich an Tabus rührende Rückbezüge zu Schieles Kindheit, zu seinem früh verstorbenen Vater zu erkennen, bei dem Sex und Existenzialismus (durch den Irrsinn einer Syphilis-Erkrankung) in einer Person kulminierten. Nur zwei Hinweise: Der Vater verliebte sich in Schieles Mutter, als diese zwölf Jahre alt war. (Schiele spielte diese Beziehung in wie auch immer unschuldigem Grade mit seiner jüngeren Schwester Gerti nach.) In einem Anflug von Irrsinn verbrannte der sehr auf Status ausgerichtete Vater in der Tullner Bahnhofsvorstands-Wohnung dann das Vermögen der Familie, die Wertpapiere, im Ofen – ein Hl. Franziskus ohne Bewusstsein?

Nein, es wird einem nie langweilig mit diesem Künstler. So viele Albertina-Ausstellung kann man gar nicht machen, so viele kann man gar nicht sehen in seinem Leben, als dass nicht jede einzelne ein Gewinn wäre. Künstlerisch, historisch, psychologisch, meinetwegen spirituell, jedenfalls persönlich.

Egon Schiele, bis 18. Juni, tägl. 10–18 h, Mi. 10–21 h.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.02.2017)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.