Retrospektive im Leopold-Museum: Die idealen Säulen des Avramidis

Avramidis’ Humanitas-Säule (1993–1996) steht jetzt im Museumsquartier.
Avramidis’ Humanitas-Säule (1993–1996) steht jetzt im Museumsquartier.(c) Leopold Museum, Wien (Stephanie Damianitsch)
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Die erste große Retrospektive nach dem Tod des Bildhauers Joannis Avramidis im Vorjahr zeigt die Größe seiner skulpturalen Entwürfe, ideell, inhaltlich und formal.

Es soll ein Lebenswunsch gewesen sein von Joannis Avramidis, einem der großen charismatischen Bildhauer des Nachkriegs-Österreichs – die Aufstellung seiner über 13 Meter hohen Humanitas-Säule, die in zwei Teilen in seinem Prateratelier herumlag. Über ein Jahr nach seinem Tod ist er in Erfüllung gegangen, mit Hilfe eines professionellen Industriekletterers, der die riesigen Teile von innen heraus miteinander verschraubte. Jetzt markieren die sich Kopf an Kopf, Fuß an Fuß anscheinend endlos in die Höhe türmenden Menschenbündel im Hof des Museumsquartiers das Leopold-Museum als eine Art Tempel einer idealen demokratischen Gesellschaft, die Avramidis in der antiken Polis begründet sah.

Die Skizze für eine derartige Platzgestaltung mit kreuzförmig angelegtem Tempelplatz samt vorgelagerter Humanitas-Säule legt diese Interpretation nahe, man findet den Plan in einer Vitrine, am Ende der großen Retrospektive auf Avramidis' Lebenswerk, die ab morgen im Leopold-Museum stattfindet. Gegen Ende seiner langen Karriere fügte der 1922 im heutigen Georgien geborene Grieche die Teile seines Werks zu nahezu sakralen Ensembles, in ihrer Konzeption lassen sie an Walter Pichlers mythisch-archaische Skulpturenräume denken: Die stilisierten, streng aus mathematischen Berechnungen entwickelten Menschengruppen schlossen sich zu Wänden zusammen. Eine Ikone aus dem Frühwerk, die „Modellierte Figur“ von 1958, die wie ein enthäutetes Anatomiemodell aus Gips aussieht, wird in der Mitte aufgestellt wie ein gefundenes Relikt, wie eine Kultfigur.

Strenge Form, strenge Figur

Avramidis hatte über ein halbes Jahrhundert hinweg einen strengen Formen- und Figurenkanon entwickelt, gekennzeichnet von seinem Streben nach der idealen menschlichen Figur in Anlehnung an die Renaissance. Die so entstandenen blockhaft wirkenden Figurengruppen erkennt man sofort, sie sind die Signatur-Stücke seines Werks. Noch mit seinem Einverständnis haben die beiden Kuratoren Stefanie Damianitsch und Ivan Ristic dieses so monolithisch wirkende Werk jetzt aufbereitet, und man kann erstaunlich viele Fassetten entdecken, die einer jüngeren Generation bisher nicht so zugänglich waren. Der Ringtanz der verschiedenen „Köpfe“, der Urform von Avramidis' Kunst etwa, zeigt erstaunliche Entwicklungen in Form und Material, vom archaisch modellierten Bronze-Kopf-Anfang der 1950er Jahre zum hochpolierten geometrisch-abstrakten Aluminium-Profil, zum mit Kunstharz gefüllten Segmentschädel etc.

Aus dem ideal berechneten Kopf wächst bald die ideal berechnete Menschenfigur, die Avramidis zu idealen Gesellschaften zusammenfügt: hier sind alle gleich in ihrer Geometrie, gesichtslos, geschlechtslos, entindividualisiert.

Welche Ideologie steckt hinter diesen tonnenschweren Bronze-Denkmälern? Avramidis ist ideologisch relativ unbedenklich, betrachtet man seine Biografie, die von Kommunismus (der Vater wurde vom Stalinregime verschleppt und ermordet) und Nationalsozialismus (Avramidis kam als griechischer Zwangsarbeiter 1943 nach Wien) gleichermaßen gezeichnet war.

„Lernen von Athen“

Nach dem Krieg blieb Avramidis in Wien, die lebenslange Sehnsucht nach so etwas wie Heimat brachte den Künstler, der schon in Georgien seine Ausbildung begonnen hatte, hier zu den Konzepten, zur Harmonie- und Schönheitsleere von Renaissance und griechischer Antike – die Idealisierung als ein verbindendes europäisches Element, da denkt man gleich an das Motto der heurigen „documenta“, „Lernen von Athen“. Die Humanitas-Säule hätte sich auch vor der Akropolis oder dem Kasseler Fridericianum gut gemacht.

„Einzelgänger der Moderne“

Doch Avramidis galt (bisher) weder als besonders politisch aktuell noch als besonders radical chic. Also steht die in ihrem Unendlichkeits-Anspruch an den von Avramidis verehrten Brancusi erinnernde Säule eben vor dem Leopold-Museum. Hier befindet sich zwar kein einziges Werk Avramidis' in der Sammlung. Zuständig fühle man sich aber trotzdem, sei doch auch er einer der „großen Einzelgänger der österreichischen Moderne“, wie Kurator Ristic die Brücke erklärt.

Dabei wird Avramidis gerne zur Gruppe der Wotruba-Schüler gezählt, was er im eigentlichen Sinn nicht war, er bekam nur ein Atelier in der Bildhauer-Klasse überlassen, man müsse es eher als „post graduate“ sehen, meint Ristic. Schließlich war Avramidis schon 31 Jahre alt und ausgebildeter Maler und Restaurator, als er 1953 seine erste Skulptur, seinen ersten Kopf formte (der sich heute übrigens in der Nationalgalerie Athen befindet). Aus diesem einen Kopf wuchsen am Ende akrobatische Menschen-Säulen und Menschen-Tempel. Zeitlos in ihrer Eleganz. Zeitlos in ihrem Inhalt.

Joannis Avramidis, Leopold-Museum, 19. Mai bis 4. September.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.05.2017)

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