Das Ende der Kunst?

Ist das noch Industrial Design? Billie Rehwalds Ektogenese-Modell.
Ist das noch Industrial Design? Billie Rehwalds Ektogenese-Modell.(c) Billie Rehwald
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Ruhm vor Reichtum, Form vor Funktion, lautete das Credo autonomer Künstler lange. Heute gestalten Künstler Handtaschen, und Designer erheben künstlerischen Anspruch. Ist damit bald alles Kunst?

Kunstauktionen melden neue Rekordpreise, Kunstmessen boomen, die Besucherzahlen von Biennalen klettern kontinuierlich in die Höhe. War Kunst über Jahrhunderte ein elitäres, den Herrschenden vorbehaltenes Vergnügen, ist sie nun allgegenwärtig. Künstler gestalten Handtaschen, Möbel und Kaffeetassen. Umgekehrt bedienen sich Designer immer häufiger künstlerischer Präsentationsweisen, was gerade gut in der Alten Post auf der Dominikanerbastei zu sehen ist.

Dort läuft die Jahresausstellung „Essence“ der Universität für Angewandte Kunst. Die Grenzen zwischen den Werken der bildenden und der angewandten Künste sind hier fließend, etwa in dem Ektogenese-Modell von Billie Rehwald aus der Klasse Industrial Design. Damit wird eigentlich die Zeugung und Reifung eines Lebewesens in einem künstlichen Uterus bezeichnet, Rehwalds Anordnung mit einem Kürbis im Zentrum ist eine sehr kreative Interpretation. Weit eher eine attraktive Form als ein funktionierender Raum ist der Prototyp eines „kollektiven urbanen Gartens“, den Angelica Lorenzi und Dennis Schiaroli am Institut für Architektur entwarfen und der auch vor dem Museum für Angewandte Kunst als Teil der Vienna Biennale steht.

Aber nicht nur die Formen nähern sich frappant der bildenden Kunst an, auch die Sprache tut es: „Ich sehe meine Kleider als energiegeladene Artefakte, die Person, die sie trägt, ist ein utopischer Schamane eines digitalen Zeitalters“, beschreibt Federico Protto aus der Modeklasse seine Entwürfe.


Zwecklos. Die Kunst ist zum Rollenmodell aller Kreativen geworden. Woher kommt diese prominente Position? Das ist eine lange Geschichte, die mit einer radikalen Überzeugung begann: Ruhm ist wichtiger als Reichtum – ein Credo, das heute ebenso verschwindet wie die klaren Konturen dessen, was wir unter Kunst verstehen. Basis des Mottos ist die bahnbrechende Schrift „De pictura“ des Architekten und Kunsttheoretikers Leon Battista Alberti. Vor 600 Jahren geschrieben, gilt „Über die Malkunst“ als erste neuzeitliche Theorie der Kunst und legt bis heute den besonderen Status der Kunst fest.

Alberti spricht darin die Maler von handwerklichen Bindungen los. Seine Forderung: Künstler seien nicht für aufgewendete Arbeit zu bezahlen, ihre Werke entzögen sich der Geldwertbestimmung. Künstler seien nicht zu entlohnen, sondern zu belohnen. Damit schrieb er der Kunst eine Sonderstellung zu, die Mitte des 19. Jahrhunderts mit der „L'art pour art“ einen Höhepunkt erreichte: eine Kunst über Kunst, die keine Funktion hatte und keinem Zweck folgte. War die Kunst bis dahin hauptsächlich im Auftrag von Kirche und Adel entstanden, so nahmen sich die Künstler jetzt eine grenzenlose Freiheit: Sie schufen Kunst, die keine Aufgaben erfüllen musste.

Es galt das Primat der Form gegenüber Inhalten – da Inhalte mit einem Nutzen verbunden sind und so der Reinheit schaden. Diese Werke basieren auf der Idee der Autonomie. Der Begriff, zusammengesetzt aus dem altgriechischen „autos“ („selbst“) und „nomos“ („Gesetz“), bedeutet Unabhängigkeit, Selbstverwaltung. Die autonome Kunst entstand im Eigenauftrag für den Verkauf. Bedingung dafür war ein offener Kunstmarkt, der wiederum nur durch eine neue, bürgerliche Gesellschaft möglich war. Man kann übrigens denselben Vorgang gerade sehr gut in den Ländern des Nahen Osten beobachten, wo seit wenigen Jahren ein neuer Kunstmarkt entsteht.


Lieber scheitern. Mit dem freien Verkauf begann zugleich eine Verwirtschaftlichung, wo ökonomische Überlegungen zuvor eine untergeordnete Rolle gespielt hatten, wie es ja Alberti formuliert hatte. Selbstverständlich gab es Selbstvermarktung und offenen Verkauf schon früher, Albrecht Dürer und Rembrandt sind berühmte Beispiele. Aber die neue Freiheit veränderte die Kunst maßgeblich, die Abstraktion in der Moderne ist eine der Konsequenzen. Eine andere ist die Idee der Erwähltheit. Ökonomisches Scheitern galt den Avantgardisten als Auszeichnung, finanzieller Erfolg und schnelle Karriere dagegen als Versagen, da es eine Auslieferung an den Zeitgeschmack sei, dem sie als Vorreiter ja weit voraus waren. Diese Haltung galt noch in den 1980er-Jahren: Ein Künstler in Düsseldorf kommentierte einmal die vielen Verkäufe während der Eröffnung seiner Galerieausstellung als „Missverständnis“ auf Seiten der Käufer und fragte sich, was er falsch gemacht habe.

Bis heute lebt die Idee des Künstlers als Bohemien fort, der sich als Außenseiter der Gesellschaft fühlt, obwohl wir längst in der Zeit der „art industry“ angekommen sind, wie es im anglo-amerikanischen Raum heißt. „Ruhm statt Reichtum“ gilt nicht mehr, Künstler sind zu Unternehmern geworden. Die Preise ihrer Produkte und die Attraktivität ihres Berufs allerdings zehren noch immer von der langen Geschichte geldwertfreier Erzeugnisse. Dabei ist heute in der Kunst kaum noch etwas von der früheren Radikalität zu finden. Nicht nur von außen, auch von innen werden die Grenzen zu anderen Formen kreativer Arbeit aufgelöst.

Auf der heurigen Documenta ist viel Engagiertes ausgestellt, Archive, Requisiten von Erlebnissen, Recherchematerial – aber kaum Kunst im kunsthistorischen Sinn. Design, Seminararbeit, politischer Aktivismus, die Grenzen verschwimmen. Kaum ein Beitrag erinnert an den früheren Anspruch, ein Kunstwerk im Sinne einer letztgültigen, verdichteten Formulierung zu sein. Dieser unklaren, außerhalb des Marktes existierenden Documenta-Kunst stehen die Kunstmarktobjekte gegenüber, die Spitzenpreise erzielen und oft von anspruchsbefreiter Dekoration nicht mehr zu unterscheiden sind. Von Kunsthandwerk übrigens auch nicht: Auf dem Platz vor dem Rockefeller Center in New York hat Jeff Koons im Frühjahr eine 14 Meter hohe, aufblasbare Ballerina aufgestellt. Das Objekt ist fast identisch mit einer kleinen Porzellanfigur, die Oksana Zhnikrup Mitte des 20. Jahrhunderts für die staatliche Keramik-Fabrik in Kiew schuf. Koons hatte sich die Lizenz von Zhnikrups Familie gekauft.


Luxusdesign. Der Kulturwissenschaftlicher Wolfgang Ullrich nennt solche Werke „Siegerkunst“. Es gehe nicht mehr darum, „die Betrachter zu läutern oder in ein neues Erkenntnisstadium zu versetzen“, sondern sie adressiere Besitzer, die „demonstrativ viel Geld dafür ausgeben und sich selbst damit in Szene setzen“, erklärt er in einem Interview in der Märzausgabe der Zeitschrift „Schweizer Monat“. „Irgendwann wird die Grenze von Design und Kunst keine Rolle mehr spielen. Irgendwann gibt es einfach Luxusdesign – und darin wird das mit eingehen, was jetzt noch Siegerkunst ist“, so Ullrich.

Auch „das Artefakthafte der Kunst“ werde verloren gehen. „Kreativität wird zur egalitären Substanz – und letztlich gehen dann auch Wellness und Kochen als eine Art ,Kunst‘ durch und werden dahingehend aufs Podest gehoben, heroisiert.“ Die heurige Documenta-Kunst und Siegerkunst sind zwei Enden desselben Weges.

Haben wir also das Ende der Kunst erreicht, ist heute alles Kunst? In der „Essence“-Ausstellung in der Alten Post gibt es Hoffnungsschimmer: In den künstlerischen Klassen besinnen sich wieder mehr Künstler auf ihr ureigenes Terrain, nämlich die autonome, die funktionslose Kunst, die schön und unnütz sein kann – die jenem Motto folgt, das Johann Gottfried Herder 1800 schrieb: „Wer kennt, ohne zu können, ist ein Theorist, dem man in Sachen des Könnens kaum trauet; wer kann ohne zu kennen, ist ein bloßer Praktiker oder Handwerker; der echte Künstler verbindet beides.“

Ausstellung

„Essence“
Die Jahresausstellung der Universität für angewandte Kunst Wien: Ähnlich wie beim „Rundgang“ der Akademie der bildenden Künste können hier Besucher die Arbeiten der Studierenden sehen. Heuer gastiert die Angewandte dafür in den Räumen der Alten Post auf der Dominikanerbastei, Kurator Edek Bartz hat die besten Werke aus 27 Klassen von Social Design über Malerei, Mode, Sprachkunst bis zum Zentrum Fokus Forschung ausgesucht. Bis 11. Juli, Dominikanerbastei 11; Di—Sa 14—18 Uhr, Do 14—21 Uhr. Eintritt frei.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.07.2017)

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