"Silence": Tête-à-Tête mit einem Bild

Silence TteTte einem Bild
Silence TteTte einem Bild(c) Sammlung Essl (Regina Holler-Strobl)
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Wie betrachten wir eigentlich ein Bild? Wohin wandert mein Blick als Erstes? Ein Besuch im "Blicklabor" des Wiener Instituts für Kunstgeschichte anlässlich der Ausstellung "Silence" im Essl Museum.

Die größte Erkenntnis nach 15 Minuten Meditation vor einem Gerhard-Richter-Bild war, pardon, keine Erleuchtung. Sondern ganz profan: Es fehlen vor allem wirklich bequeme Sitzgelegenheiten in Museen. Würden überall derart gemütliche Ohrensessel stehen wie in der Anti-Ausstellung „Silence“ im Klosterneuburger Essl Museum, man verweilte gerne länger als zwölf Sekunden...

Mehr Zeit nimmt sich der durchschnittliche Ausstellungsbesucher nicht pro Werk. Das muss Kuratoren und Künstler frustrieren. Auch Sammler: Karlheinz Essl ging in die Offensive und widmete eine ganze Museumshalle allein der intensiven Kunstbetrachtung fernab von Quote und dem üblichen Ausstellungsrummel. Nicht einmal eine Pressekonferenz zu Beginn der Aktion sollte die Andacht stören, die sich auf zwei (abstrakte) Gemälde aus Essls Sammlung richtet (zumindest der zweite Maler sei hier nicht verraten). Macht man sich die Mühe sich anzumelden, kann man bis zu einer Stunde völlig allein mit den zwei Bildern verbringen. Da kommt man ins Sinnieren...

Wohin wandert mein Blick als Erstes? Kann er das überhaupt? Wie nehme ich Kunst eigentlich wahr? Mit diesen Fragen beschäftigt sich der in Mailand geborene Kunsthistoriker Raphael Rosenberg, Professor für Mittlere und Neuere Kunstgeschichte an der Universität Wien. Seit seinem Studium interessiert ihn dieses Gebiet, in Wien konnte er jetzt das erste Blicklabor an einem kunsthistorischen Institut einrichten.

Von links nach rechts? Zwar folgen schriftliche und mündliche Beschreibungen von Bildern seit Jahrhunderten auffällig oft den (gefühlten) Bewegungen der Augen: „Mein Blick erhebt sich von links unten nach rechts oben und tritt rechts unten wieder aus dem Bild hinaus“, gibt Rosenberg ein Beispiel. Aber ist das wirklich so? Kann man das physiologisch messen? Ist die Kompositionslinie, die der Maler vorgibt, wirklich die, der das Auge folgt?

Um das zu studieren, werden in Wien Geräte der Blickaufzeichnung eingesetzt, die es im Grunde seit 1898 gibt, erklärt Rosenberg. Doch werden sie sonst vor allem in der Werbung, der Psychologie, der Autoindustrie und sogar im Heereswesen verwendet. Etwa um die Qualität einer Windschutzscheibe zu testen. Oder die Wirkung eines Werbeplakats. Für die Wirkung von Kunst zeichnet eine Kamera das Blickfeld auf, die andere die Augenbewegungen des Probanden, wodurch die Bewegung auf dem gesehenen Bild rekonstruiert werden kann.

Ruckartig hin und her! Und tatsächlich, „die Augen verhalten sich völlig anders, als wir Kunsthistoriker das angenommen haben und annehmen“, so Rosenberg. „Es sind keine langsam mäandernden Bewegungen, sondern ruckartige Sprünge. Diese sind notwendig, weil wir nur sehen können, wenn unser Auge für zirka das Drittel einer Sekunde stehen bleibt. Man braucht diese Fixation, um etwas scharf zu sehen. Es ist erstaunlich, wie sehr wir trotzdem glauben, dass wir ein breites Blickfeld zur Verfügung haben.“

Rosenberg erzählt von einem berühmten Test mit einem Fernseher: Ein Gorilla ging im Vordergrund des Testfilms quer durch das Bild – und niemand bemerkte ihn, weil die Versuchspersonen angewiesen worden waren, sich auf die Basketballspieler im Hintergrund zu konzentrieren. Rosenberg hat für einen seiner Tests hundert Personen – Kunstexperten und Laien – vier Bilder je 15 Minuten lang gezeigt. Bei einfach aufgebauten Bildern konnten keine Unterschiede zwischen Laien und Fachleuten festgestellt werden. Komplexere Kompositionen erfassten Fachleute allerdings um einiges schneller. Man kann den Blick also tatsächlich trainieren.

In alle Richtungen. Eine weitere Überraschung für Rosenberg war, dass die Bilder nicht von links nach rechts gelesen werden – sondern die Blicke in alle Richtungen springen, ohne präferierte Leserichtung. „Es gibt also eine Differenz zwischen der tatsächlichen Blickbewegung und dem subjektiven Gefühl, dass wir ein Bild von links nach rechts lesen.“ Oder von oben nach unten, von rechts nach links. Das wahllose Springen des Blicks eint alle Menschen, egal ob sie im arabischen oder asiatischen Raum kultiviert wurden.

Und der Unterschied zwischen Männern und Frauen? Zumindest bei expliziten Sujets gibt es ihn. Der Kunsthistoriker Mario Thalwitzer hat dazu im Wiener „Blicklabor“ ein Selbstporträt von Maria Lassnig getestet. Zwei Pistolen hat sie in den Händen, ihre Beine sind gespreizt, ihr Geschlecht liegt frei. Die Blicke der Frauen schweiften. Die der Männer dagegen fixierten. Das Gesicht.

»Silence«
– auf 600 Quadratmetern hängen zwei Bilder, davor zwei Sessel. Man kann bis zu einer Stunde allein hier verbringen. Bis 20. Mai.

Anmeldung
Für eine einsame Stunde sollte man reservieren, Öffnungszeiten des Museums: Di–So: 10–18, Mi. 10–21. Einlass zu jeder vollen Stunde. Tel.:+43/(0)2243/370 50 150

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.04.2012)

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