Margherita Oggero:Wenn Gott verloren geht

Margherita OggeroWenn Gott verloren
Margherita OggeroWenn Gott verloren(c) DVA
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Krimiautorin Margherita Oggero hat einen wunderbaren Roman über das Leben in Süditalien geschrieben – mit liebevoll gezeichneten Figuren, die dem Schicksal trotzen.

Margherita Oggero, pensionierte Lehrerin aus Turin, ist mit Krimis bekannt geworden, die in Italien auf den Bestsellerlisten gelandet sind. Auch ihr jüngster Roman, „Der Duft von Erde und Zitronen“, hat kriminelle Elemente, die Spannung ergibt sich jedoch wesentlich aus der Dynamik und Interaktion der Personen.

Erzählt wird die Geschichte der 13-jährigen Immacolata, die in einem Dorf in der Nähe von Neapel aufwächst. Der Mafia-Clan von Don Raffaele beherrscht die Gegend. Die Camorra wird von den Dorfbewohnern als eine dem Staat ähnliche Institution wahrgenommen, der man Schutzgeld zahlt, so, wie man an den Staat Steuern abliefert. Wenigstens tue die Mafia dann auch etwas für die Gemeinschaft, sie baue soziale Einrichtungen.


Mutterseelenallein. Immer wieder verschwinden Menschen, wird ein Toter am Straßenrand gefunden. Immas Familie lebt aber relativ unbehelligt in dem Dorf. Doch als Imma fünf Jahre alt ist, stirbt ihre Mutter bei einem Autounfall. Imma wird von ihrer Großmutter Assunta aufgezogen, sehnt sich aber nach der Mutter. Es zieht sie hinaus in die Wiesen und Wälder, wo sie den Duft von Erde und Zitronen einsaugt, die letzte und intensivste Erinnerung an ihre Mama, die eine leidenschaftliche Gärtnerin war.

Auf einem dieser Streifzüge passiert es: Don Raffaeles jüngerer Sohn versucht, Imma zu vergewaltigen. Sie schlägt mit einem Stein auf seinen Kopf, er fällt um. Imma läuft nach Hause, erzählt, was sie getan hat. Die Rache des Clans ist ihr und der Familie sicher, sie muss verschwinden. Assunta verliert nun auch ihre Enkelin und damit den Glauben an einen gerechten Gott. Als der Pfarrer sie fragt, warum sie den Gottesdienst nicht mehr besucht, reagiert sie als Mutter. Er solle ihr nicht mit Hiob kommen, ein Kind könne man nicht ersetzen, auch nicht, wenn man dann noch zehn andere bekäme.

Die Wohnung der Exfrau eines Onkels im Norden Italiens wird Immas Zuflucht und gleichzeitig ihr Gefängnis. Tante Rosaria, eine vom Leben nicht eben verwöhnte und entsprechend verhärmte Frau, spricht kaum mit ihr. Ein Tag ist wie der andere, es fehlen die die Zeit strukturierenden Rituale. Oggero findet ein schönes Bild dafür, wie sich Imma Rituale schafft: Sie lässt sie täglich auf die „steinerne Stunde“ warten, jenen Moment, in dem sich unten auf der Straße nichts bewegt, niemand kommt oder geht, kein Auto fährt.


Rettende Bücher. Zweimal die Woche läuft Imma verbotenerweise, eingehüllt in eine Kapuzenjacke, zum Markt und kauft Bücher. Ein Buch über ein gefangenes Mädchen will sie lesen. Der Verkäufer gibt ihr das Tagebuch der Anne Frank. Die Bücher eröffnen ihr neue gedankliche Räume. In der Auseinandersetzung mit den Helden der Geschichten – unter anderen Oliver Twist oder Guy Montag aus „Fahrenheit 451“ – erkennt sie einen Weg, wo vorher alles versperrt schien.

Margherita Oggero hat nicht nur einen wunderbar poetischen Roman über eine Familie geschrieben, sondern auch ein differenziertes Bild der Situation in Süditalien entworfen. Sie schildert die archaische Gesellschaftsstruktur, in der sich Männer nehmen, was sie wollen, aber auch den Zusammenhalt innerhalb der Familien.

Die Geschichte wird großteils aus der Perspektive des Mädchens und ihrer Großmutter erzählt. Oggero trifft die Sprache beider, der alten Frau und der Pubertierenden. Dabei verzichtet sie wohltuend darauf, sich einem Jugendslang anzupassen.

Auch die Nebenfiguren sind liebevoll gezeichnet. Aus deren verästelten, krummen, vor sich hin mäandernden Lebenslinien treten die Charaktere plastisch hervor, werden Handeln und Einstellungen der Figuren nachvollziehbar. Sogar die griesgrämige Rosaria wächst einem ans Herz. Es sind die Details, die das Buch so besonders machen: Die langsame Annäherung von Imma und Rosaria wird auch daran verdeutlicht, dass Imma sie irgendwann nicht mehr als „die Extante“ bezeichnet, sondern von ihr als „Rosaria“ spricht.

Ein nichts beschönigendes und trotzdem tröstliches Buch.

Margherita Oggero: „Der Duft von Erde und Zitronen“, übersetzt von Peter Klöss, DVA, 320 Seiten, 20,60 Euro.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.07.2012)

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