Literatur: Bitte keine Klischeetürken

Literatur Bitte keine Klischeetuerken
Literatur Bitte keine Klischeetuerken(c) binooki
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Der Binooki-Verlag aus Berlin-Kreuzberg gibt türkischen Autoren eine deutsche Stimme. Wer aber Dönerstandromantik sucht, wird hier nicht fündig werden.

Über Tote soll man bekanntlich nicht schlecht reden. Die drei Schwestern wissen das natürlich auch. Sie halten sich nur nicht daran, denn die immense Wut auf ihre Mutter sitzt noch tief in den Knochen. Und als sie in der Istanbuler Wohnung der Verstorbenen – mit einem dramatischen Blick auf den Bosporus – die Hinterlassenschaften ordnen, meint Süher: „Sie dreht sich in ihrem Grab um, wie ein Kreisel, diese prahlerische Hexe.“ Unversöhnlich auch Zeynep, die Jüngste: „Eher würde ich sterben als ihr zu vergeben, sie soll ihre Strafe bekommen. Wenn ich sie im Fegefeuer sehe, werfe ich noch ein Stück Holz hinein.“

Bis zu ihrem Tod war Muzaffer für ihre Töchter eine gänsehauterzeugende Erinnerung an trübe Tage, ein verblasstes Aquarellbild. Die frostige und gebieterische Dame der feinen Istanbuler Gesellschaft hat die Mädchen nach ihren strengen Vorstellungen formen und geradebiegen wollen. Und noch bevor sie damit erfolgreich sein konnte, hat sie die Familie mit Sack und Pack verlassen. Nun, nach ihrem Tod, sitzen die Schwestern in dieser unheimlichen Wohnung und warten auf die alten Damen, die sieben Tage hintereinander zum Totengebet kommen werden: „Das Siebentagegebet“ – so hat Autorin Zerrin Soysal ihren Roman genannt, in der sie bedachtsam eine dornige Familiengeschichte erzählt.

Die jüngste Schwester Zeynep ist Mittelpunkt dieser Geschichte, sie ist auch diejenige, die Schluck für Schluck die wahre Geschichte ihrer Mutter erfährt. Soysals Erzählung ist insgesamt schön, ergreifend, in kurzen Momenten aber recht kraftlos. Oft weiß der Leser nicht, wessen Gedanken er gerade verfolgt, da die Namen der Schwestern nicht immer genannt werden. Monoton ist „Das Siebentagegebet“ trotz allem nicht. Das Buch erschien 2011 in der Türkei, nun liegt im Binooki-Verlag die deutsche Übersetzung vor.

Binooki – das ist eine coole Abwandlung des türkischen Wortes „binoki“ für Zwickerbrille, diese runden Gläser der Jahrhundertwende-Herren. Die Schwestern Inci Bürhaniye und Selma Wels haben den Verlag im Juni 2011 gegründet, und zwar mit dem Ziel, „jungen türkischen Autoren eine deutsche Stimme zu geben“, wie einem Interview zu entnehmen ist. Ein löbliches Unterfangen, denn zuletzt konnte man im deutschsprachigen Raum den Eindruck bekommen, dass türkische Literatur bei Orhan Pamuk beginnt und bei Orhan Pamuk aufhört.

Der Binooki-Verlag beweist seit Jahresbeginn (mit Erscheinen des ersten Programmes) das Gegenteil. Verlegt werden zeitgenössische Autoren, die sich auch an schwierige Themen herantasten und dem Leser keineswegs Klischeebilder auf die Stirn kleben. Als da wären der Dönerstandbetreiber oder die gefügige Haus- und Ehefrau. Klischee ist an diesem Verlag nur die Adresse: Berlin-Kreuzberg, in Deutschland auch Klein-Istanbul genannt.

Keine Klischeetürken sind auch Çetin und Ender, zwei Männer, die sich Freundschaft, Wohnung und das selbstgekochte Essen teilen. Als Nihal, die Schwester eines Freundes, bei ihnen einzieht, gerät die männliche WG aus den Fugen, emotional zumindest. Beide verlieben sich in Nihal. Die (wunderbar einfühlsame) Geschichte einer Ménage à trois von Barış Bıçakçı („Unsere große Verzweiflung“) wurde ebenfalls von Binooki verlegt. Und Bıçaçkıs Buch ist auch Indiz dafür, dass den Schwestern mit ihrem Verlagskonzept durchaus Erfolg beschieden sein kann: Die Filmadaption von „Unsere große Verzweiflung“ unter der Regie von Seyfi Teoman wurde vergangenes Jahr bei der Berlinale gezeigt.

Neue BÜcher

Barış Bıçakçı
„Unsere große Verzweiflung“
übersetzt von:
Sabine Adatepe
173 Seiten
14,90 Euro

Zerrin Soysal
„Das Siebentagegebet“
übersetzt von:

Çiğdem Özdemir
296 Seiten
14,90 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.09.2012)

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