Literatur: Alltag als Auslandskorrespondent

Literatur Alltag Auslandskorrespondent
Literatur Alltag Auslandskorrespondent(c) APA/GEORG HOCHMUTH (GEORG HOCHMUTH)
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Reporter des ORF beschreiben die Höhen und Tiefen ihrer Arbeit in 16 verschiedenen Ländern. Und erzählen über die Menschen, die ihnen ihre neue Heimat nähergebracht haben.

August 2011, Tripolis: Es gibt kein Wasser, die Stromversorgung funktioniert sporadisch, in den Geschäften finden sich nur noch Thunfischdosen. Wenige Tage nach dem Sturz des Diktators Muammar al-Gaddafi ist die Versorgungssituation in der libyschen Hauptstadt katastrophal – die trostlose Lage will Nahost-Korrespondent Karim El-Gawhary für den ORF und die „Presse“ beschreiben. Dann trifft er einen 70-Jährigen, der einen Wasserkanister hinter sich herschiebt. „Das ist die schönste Krise meines Lebens“, sagt der Mann fröhlich dem verdutzten Reporter: Nach 42 Jahren Gaddafi werde er das schon durchstehen. „Da war der Versorgungsengpass flugs auf den Kopf gestellt“, schreibt El-Gawhary im Buch „Mit eigenen Augen“, das ORF-Chefreporter Roland Adrowitzer herausgegeben hat. ORF-Auslandskorrespondenten berichten darin über Arbeit, Alltag, Erfahrungen in 16 Ländern.


Nächtliche Radfahrt. „Möglichst nah dran zu sein“ lautet El-Gawharys Devise – auf die Straße gehen, mit Menschen reden, genau hinschauen. Dann erst würden sich plötzlich „völlig neue Perspektiven“ ergeben – wie eben jene des alten Libyers. Diese Nähe vermittelt der Text von Christian Schüller aus der Türkei besonders intensiv. Anhand von drei Lebensgeschichten schafft er es, die sozialen Veränderungen seit der Machtübernahme der islamischen AKP greifbar zu machen und die Widersprüche bei der Modernisierung des Landes aufzuzeigen: Da ist der ehemalige Gastarbeiter, der seine kurdische Herkunft verschweigt und in seiner anatolischen Heimatstadt ein kleines Geschäftsimperium aufbaut; sein Freund, ein kurdischer Alevit, lebt zurückgezogen in seinem Dorf; und schließlich die Tochter eines anatolischen Einwanderers in Istanbul – eine alleinstehende Mutter, eine emanzipierte und politisch aktive Geschäftsfrau, die gegen die Eröffnung einer Religionsschule in ihrem Viertel kämpft.

In anderen Beiträgen stellt sich dann wieder der Autor in den Vordergrund, beschreibt Höhen und Tiefen des Korrespondentenalltags. So schildert Bettina Madlener aus London mit viel Witz die Schwierigkeiten, als TV-Reporterin eines kleinen Landes Interviewpartner und Drehgenehmigungen zu bekommen. Sie wundert sich – manchmal an der Grenze zum Klischee – über die Unempfindlichkeit der Briten gegenüber Nässe und Kälte oder über ihre Skepsis zu allem Kontinentaleuropäischen. Tim Cupal aus Washington erzählt über eine wilde nächtliche Radfahrt, um seine „Story“ zu retten und die aktualisierte Fassung rechtzeitig nach Wien zu schicken. Das Brüsseler Team beschreibt die komplizierte Aufgabe, EU-Beschlüsse in TV und Radio anschaulich zu vermitteln.


Schizophrener Alltag. Richtig zu leben beginnen diese Einsichten in das Reporterleben dann, wenn die Autoren ihre Selbstzweifel beschreiben: Wenn sich etwa Josef Manola aus Madrid bei einem Interview mit einer Frau, die wegen nicht zurückbezahlter Schulden aus ihrer Wohnung delogiert werden soll, fragt, wann die Grenze zum Voyeurismus erreicht ist. Wenn Jörg Winter vor einer neu errichteten chinesischen Geisterstadt in der Wüste zugibt, dass „vieles meiner westlichen Logik nicht zugänglich ist“. Oder wenn Karim El-Gawhary schreibt: „Nach zwei Jahrzehnten Arbeit und Leben in Ägypten war es unmöglich, am Tag des Sturzes von Mubarak als Journalist nicht mitzufeiern.“ Es ist schwierig, emotional Distanz zu halten, wenn man im Land lebt, über das man berichtet, hier Freunde oder Familie – einen Alltag hat.

Carola Schneider beschreibt überzeugend in ihrem guten Beitrag über die Anti-Putin-Demos den großen Frust vieler ihrer russischen Bekannten und deren Versuch, eine Zivilgesellschaft aufzubauen. Mit feiner Ironie schildert hingegen Ben Segenreich den schizophrenen Alltag in Israel: „Zwischen Lebensfreude und Existenzängsten.“

„Nähe“ kann für Journalisten zum Problem werden. In diesem Fall aber macht der persönliche Zugang viele der Beiträge so lesenswert, weil ehrlich. Die Texte sind spannende Zeugnisse dieser chaotischen Krisen- und Umbruchjahre, beschrieben von Menschen, die sie miterlebt haben. Empfehlenswert.

Roland Adrowitzer (Hg.) „Mit eigenen Augen“: ORF-Korrespondenten berichten. Styria Premium, 304 Seiten, 29,99 Euro.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.10.2012)

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