Saul Friedländer: "Kafka hatte homosexuelle Fantasien"

Saul Friedlaender
Saul Friedlaender(c) EPA (Jan Woitas)
  • Drucken

Sein Buch "Das Dritte Reich und die Juden" gehört zu den wichtigsten über den Holocaust, nun hat Saul Friedländer eines über Kafka geschrieben. Wie dieser kommt er aus Prag, verlor die Eltern in Auschwitz.

Eine zentrale These Ihres „Kafka“-Buchs ist, dass Kafka homosexuelle, vielleicht sogar pädophile Neigungen hatte.

Saul Friedländer: Er hatte homosexuelle Fantasien, mit Betonung auf Fantasien! Er hat sie nicht ausgelebt.

Eine leicht homoerotische Note kann man aus vielen Passagen bei Kafka herauslesen. Sie versuchen aber zu zeigen, dass dies entscheidend für das Verständnis von Schuld und Scham in seinem Werk sei. In den Briefen und Tagebüchern finden sich allerdings nur zarte Anspielungen, das Ganze bleibt also Spekulation. Und Kafka war sehr offen in seinen Tagebüchern; wenn Sie recht haben, hätte er nicht über diese Neigungen offener geschrieben?

Er ist in einer so prüden jüdischen Bourgeoisie aufgewachsen, auch seine Freunde hätten kein Verständnis gehabt. Als junger Mann war er sehr befreundet mit Oskar Pollak. In seinen Briefen an ihn finden sich Andeutungen, „Ich habe Dich sehr lieb“ oder die Angst, dass ein Mädchen ihn Kafka wegnehmen wird. Aber die Originalbriefe sind verschwunden, wir haben nur, was uns Max Brod davon überliefert. Brod sagt, sie sind im Krieg verloren gegangen. Mark Anderson, der in Bologna lehrt, hat einen Aufsatz über Kafka und Homosexualität geschrieben. Er hat den Verdacht, dass Brod die Korrespondenz vernichtet hat. Brod hat sich wirklich sehr merkwürdig verhalten. Aber gut, er wollte aus Kafka einen Heiligen machen.

Berühmt wurden Sie als Historiker des Holocaust – vor allem mit Ihrem zweibändigen Werk „Das Dritte Reich und die Juden“. Mit dem „Kafka“-Buch wagen Sie sich auf neues Gebiet. Was hat Sie dazu gebracht?

Als Bub in Frankreich las ich 1947 die Brod-Biografie. Ich hörte das erste Mal von Kafka. Seitdem bin ich ein unendlicher Leser seines Werks geworden. 1948 fand ich in Israel dieselbe Biografie in der Bibliothek meines Onkels auf Deutsch. Er sagte mir, ich kenne Brod, er kam 1939 nach Palästina und wohnte im selben Dorf. Er hat meine Stühle mitgenommen und nicht zurückgebracht. So, das ist meine Rache (lacht).

Einiges verbindet Sie ja biografisch mit ihm, auch Sie wurden in Prag geboren ...

Mein Vater war sogar wie Kafka Prokurist in einer deutschen Versicherungsgesellschaft. Meine Mutter hieß Elli wie eine Schwester Kafkas. Meine Mutter kam aus Rochlitz in den Sudeten nahe von Gablenz, wo Kafka oft beruflich war. Meine Eltern sind in Auschwitz gestorben wie die drei Schwestern Kafkas. In Israel war ich in einer Landwirtschaftsschule, die ursprünglich in Berlin für jüdische Kinder aus Osteuropa gegründet wurde. Kafka hat über diese Schule mit Felice viel gesprochen. Er bewunderte den authentischen Glauben osteuropäischer Juden als Gegensatz zum substanzlosen Judentum in seinem Umfeld. Er war nie religiös und wurde es nie, er war auch nicht Zionist, wie Brod in seiner Biografie weiszumachen versucht. Am Ende seines Lebens hat er mit einer Reise nach Palästina geliebäugelt, aber dort leben? Undenkbar, er hätte die Flucht ergriffen! (Lacht.)

Auch Sie kommen wie Kafka aus einer religiös eher indifferenten Familie. Waren Sie irgendwann gläubiger Jude?

Gar nicht! Nach unserer Flucht aus Prag wurde ich als Zehnjähriger in Frankreich sehr katholisch ...

Als Ihre Eltern Sie in einem katholischen Internat versteckten.

Ja. Psychologisch ist das verständlich, die Jungfrau Maria war eine Art Mutterfigur. Nachdem ich aus dem Seminar kam, habe ich den Rest von dem, was an Katholischem in mir war, verloren und wurde Kommunist und Zionist.

Da waren Ihre in Frankreich verhafteten Eltern bereits in Auschwitz ermordet. Wie kämpft man mit so einem Schicksal gegen das Gefühl der Absurdität des Lebens? Wo war Ihre Zuflucht?

Nach dem Krieg war ich noch halb katholisch. In meiner Autobiografie schildere ich einen Sederabend, mein Vormund hatte mich aus meinem Internat nach Paris eingeladen. Es waren viele Leute, die Suppe kam, dann das Fleisch – und das wollte ich nicht essen. Weil Karfreitag war! Das zeigt, wie verwirrt ich war. Aber in der Pubertät ändert sich alles. Für ein paar Monate bin ich Kommunist geworden und dann heftiger Zionist. Der Zionismus konnte damals für die Menschen eine Religion sein.

Wie kamen Sie zu Ihrem ersten Buchthema, „Pius XII. und das Dritte Reich“?

Ich arbeitete in Bonn im Archiv des Auswärtigen Amtes und fand in der Akte USA ein Dokument, das dort zufällig gelandet sein muss. Es war die Einladung des Papstes an die Berliner Oper nach Rom, Dezember 1941. Die Musiker sollten dort Teile des Parsifal aufführen. Ich dachte, merkwürdig ... Da plötzlich kam etwas Zentrales in meinem Leben, der Holocaust. Und bis vor wenigen Jahren war das zentral für mich. Diese gezielte Arbeit war vielleicht der Inhalt meines Lebens. Allein die zwei Bände von „Das Dritte Reich und die Juden“ haben mich 16 Jahre lang beschäftigt. Um auf Ihre vorige Frage, was die Leere gefüllt hat, zu antworten: Ich würde sagen, dieses Gefühl, dass ich muss, dass da irgendwie eine Notwendigkeit besteht.

Ihr fast 50 Jahre altes Buch prägte entscheidend das Bild eines Papstes mit, der zum Holocaust schwieg. Hat sich an diesem Bild für Sie seitdem etwas verändert?

Nicht sehr viel. Kleinigkeiten haben die Perspektive noch schlimmer gemacht.

Verteidiger verweisen auf die große Zahl an Juden, denen der Papst mit diplomatischen Mitteln das Leben rettete, und seine Angst, die Nazis könnten auf seinen Aufschrei reagieren wie in Holland. Dort deportierten die Nazis zur „Strafe“ für den Protest katholischer und evangelischer Bischöfe 1942 alle holländischen Juden.

Ich weiß nicht, ob das mit der Angst wirklich so stimmt. Pius XII. stand der deutschen Kultur sehr nah, Pro-Nazi war er nicht. Und nach dem Krieg war er ein fanatischer Cold Warrior. Und wer stand im Krieg zwischen Bolschewismus und Christentum? Die deutsche Armee. Aber er war auch leicht nicht-philosemitisch, sagen wir es so. Am Abend vor Weihnachten 1942 spricht er im Radio zu den Kardinälen und sagt, die Juden von Jerusalem haben den Christus zurückgewiesen, der Fluch ist auf sie gekommen und hat sie zum Gottesmord getrieben. Zu einem Zeitpunkt, an dem die Juden vernichtet wurden – und das wusste er –, nimmt er das Schlimmste, was je im Christentum über die Juden gesagt wurde. Das hat mich sehr gewundert, und ich finde, dass ein Hauch Ressentiment drin ist.

An Ihren historischen Werken wird die Literaturhaftigkeit wahlweise gelobt oder als zu wenig objektiv kritisiert. Sie bringen Emotionen ein, verwenden viele persönliche Zeugnisse ... Wären Sie vielleicht Literaturwissenschaftler geworden, wenn Sie das Schicksal nicht in den Historikerberuf gedrängt hätte?

Meine Neigung gilt jedenfalls mehr der Literatur. Ich lese nicht Geschichte, wenn ich Zeit habe. Ich lese zum vierten Mal den ganzen Proust, ich lese fast den ganzen Joyce, ich lese Flaubert ...

Sie haben in Prag Deutsch gesprochen und Englisch gelernt, mit sieben Jahren flohen Sie nach Frankreich und waren viele Jahre dort, dann lernten Sie in Israel Hebräisch. Welche Sprache lesen Sie am liebsten?

Englisch und Französisch. Ich habe mir die neue englische Proust-Übersetzung gekauft. Ich wollte sehen, wie der Übersetzer das macht bei Szenen, die so schwer zu übersetzen sind. Zum Beispiel wenn es um die Blumen geht, die Swann liebt, die Aubépines (Weißdorn, Anm.d.Red.). Der Erzähler steht vor der Mauer im Park von Swanns Villa, und da sind die Aubépines, weiß und rosa, wunderschön geschildert, ein paar Seiten nur über die Blumen!

Auch bei Kafka haben Sie Ausgaben miteinander verglichen.

Ja, ich habe die Brod'sche Ausgabe gelesen und dann die kritische. Als ich spürte, da passt was nicht ganz, hab ich die zwei Ausgaben und auch die französische verglichen, um zu sehen, wo Brod zensuriert hat. In Marthe Roberts französischer Übersetzung sind Stellen, die in der Brod'schen Ausgabe nicht existieren. Wo hat sie die her? Hatte sie Dokumente, die Brod nicht erwähnen wollte? Ich weiß es nicht.

Sie engagieren sich für Frieden mit den Palästinensern und äußern sich immer wieder kritisch zur israelischen Siedlungspolitik. Trotzdem lassen Sie sich ungern über aktuelle israelische Politik interviewen, warum?

Ich kritisiere die israelische Politik sehr, aber nicht gern, wenn ich hier sitze oder in Los Angeles. Nicht, dass ich nicht involviert wäre, ich habe Enkel beim Militär. Aber ich kritisiere nicht gern von außen.

Fragen an Saul Friedländer

Steckbrief

1...welches Buch Ihr nächstes sein wird?
Ich war Teil vieler Debatten, über Pius XII., Israel und Zionismus, im deutschen Historikerstreit über die Frage, wie man über Geschichte schreiben soll, jetzt wieder über Israel. Darüber würde ich gern eine Art intellektuelle Autobiografie schreiben, wenn es mir gelingt. Auch über die Ambivalenzen – in vielen Dingen bin ich mir nicht sicher, sehe keine Lösung ...
2... ob Sie sich als Atheisten sehen?
Dazu fällt mir ein Buch des Franzosen Romain Rolland ein, „Jean Barrois“. Jean Barrois ist Atheist und schreibt mit 45 Jahren ein Testament, man soll ihn nicht religiös beerdigen etc. Als er alt wird, kommt er zur Religion zurück. Aber im Testament hat er verlangt, man müsse ignorieren, was er im Alter sagen würde! Also ich, alt oder jung, bin nicht Atheist, weil das etwas Militantes ist. Ich bin vollkommen gleichgültig. Wenn ich eine Religion habe, dann sind das Bücher, und zwar nicht das Schreiben, sondern das Lesen.1932
Geboren in Prag als Kind deutschsprachiger Juden.

1939
Flucht. Er überlebt in Frankreich in einem katholischen Internat.

1948
Ausreise nach Israel, er benennt sich um – von „Paul“ zu „Saul“.

1964
Erstes (Pius-)Buch, mehr über NS-Zeit und Holocaust folgen, wie „Das Dritte Reich und die Juden“ (engl. 1997 u. 2007). Er lehrte in Tel Aviv u. Los Angeles, wo er heute lebt. Zuletzt erschien „Kafka“ (C.H. Beck).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.12.2012)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.