Nora Bossong: Vom Los der vierten Generation

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Nora Bossong erzählt vom Aufstieg und Verfall eines Familienunternehmens, das in vierter Generation von einer Tochter geführt wird. Thomas Mann hätte das gefallen.

Der Urgroßvater muss ein unerträglicher Mann gewesen sein. Tüchtig zwar, ideenreich, aber unerträglich. Mit sechs Mitarbeitern baut Justus Tietjen eine Frotteefabrik in Essen auf, nur wenige Jahre später, 1909, hat er bereits 60 Angestellte, irgendwann 200. Später errichtet er sogar kleine, schmucke Häuser für die Arbeiter auf dem Fabriksgelände, und während die Männer auf Schicht sind, besucht er deren Frauen, tätschelt ihnen das Knie, legt seine Hand um ihre Hüften und nimmt sich, was ihm seiner Meinung nach zusteht.

Die Enkelin hat das nie erfahren, und hätte sie doch, ihre Einstellung zur Familie hätte das kaum verändert. Luise Tietjen ist 27, als ihr Vater Kurt stirbt. Aufgewachsen in einer Familie, in der es selbstverständlich war, jeden Weg mit Taxi oder dem eigenen Fahrer zurückzulegen, bekommt sie doch als wichtigste Tugend die Disziplin mit auf den Weg. Kurt war der Sohn von Kurt senior, der das Familienunternehmen nach dem Vorbild seines Vaters Justus ausgebaut hatte. Kurt, der Jüngere, litt darunter, dass jeder und ganz besonders Frauen, so hatte es ihm die Mutter prophezeit, nur wegen seines Geldes an ihm interessiert waren. New York blieb seit einem Sprachaufenthalt in der Jugend seine Sehnsuchtsstadt, weil er glaubte, dass die Herkunft in diesem Land noch nicht alles festlege. Vielleicht kehrte er deswegen mit Anfang 60 an die Stadt am Hudson River zurück, begann eine seltsame Affäre mit einer einfachen Frau, tauchte unter, verwahrloste. Als Luise ihn nach Hause holen will, kommt sie zu spät.


14 Millionen Frotteeprodukte. Das verändert einiges. Die Tochter bekommt plötzlich, was sie nie gewollt hat: die Geschäftsführung von Tietjen und Söhne. Dem Vater gelang nämlich nicht, was er sich vorgenommen hatte: „Zerstören, was nach ihm kam, um loszuwerden, was vor ihm gewesen war.“ Nach seinem Tod ist noch einiges da: ein Unternehmen, das 14 Millionen Frotteeprodukte und einen Umsatz von 38 Millionen Euro pro Jahr macht – aber auch ein Berg Schulden und Mitarbeiter, die auf den Chefsessel gehofft haben.

Nora Bossong erzählt die Geschichte eines Familienunternehmens und konzentriert sich dabei weniger stark auf dessen Aufstieg und Verfall, sondern auf die Charaktere der vier Hauptpersonen – die Tochter und ihre drei männlichen Vorfahren. Die erste Frau in der Rolle der Familienvorsitzenden unterscheidet sich allerdings von den Männern: Sie tut still und geduldig, was zu tun ist. Sie liebt die Firma nicht, so wie Urgroßvater und Großvater, hasst sie aber auch nicht, wie es ihr Vater tat. Und trotzdem kann sie den Verfall nicht aufhalten.


Auf Thomas Manns Spuren. Wer denkt bei einer Familiengeschichte in vier Generationen nicht an Thomas Mann? Nora Bossong skizziert den Aufstieg und Verfall eines Familienunternehmens nach Buddenbrook'schem Vorbild. Doch die 30-jährige Autorin legt es ganz anders an als der deutsche Schriftsteller vor über hundert Jahren. Sie erzählt kein dichtes Epos, in dem Personen oder einzelne Szenen seitenlang bis ins kleinste Detail geschildert werden, sondern strafft die Familiengeschichte und konzentriert sich auf den Konflikt zwischen dem Vater in dritter und der Tochter in vierter Generation. Sie hält sich nie sehr lange bei einer Szene oder in einer Generation auf. Der nüchterne Stil unterstreicht das kühle Verhältnis zwischen den Familienmitgliedern, das mehr den Gesetzen der Wirtschaft als denen der Verwandtschaft folgt.

Doch thematisch geht Bossong weit über das Erzählen einer Familiengeschichte hinaus: Anhand der Affäre zwischen Luise und dem aufstrebenden Mitarbeiter Krays reflektiert sie das moderne Phänomen der fließenden Grenzen zwischen Berufs- und Privatleben. Alle Figuren in „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“ sind einsam, unsicher und gefangen in ihrer Rolle.

Besonders treffend ist das Titelbild, das einen weiblichen Hüftausschnitt zeigt: Die elegante Kleidung – enger Pencil Skirt, feine Bluse – verweist auf die Konventionen des Berufslebens, denen sich Luise freiwillig unterwirft. Nur die geballte Faust verrät ihre unterdrückte Wut gegen das System. Diese behält sie aber für sich.

Neu Erschienen

Nora Bossong
Gesellschaft mit beschränkter Haftung

Verlag Hanser
296 Seiten
20,50 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.12.2012)

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