"Nausea": Comic mit Sartre und Sauereien

Nausea Comic Sartre Sauereien
Nausea Comic Sartre Sauereien(c) EPA (Mark Lees)
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Mit dem exzellenten Band "Nausea" beginnt die Neuausgabe des Werks von Robert Crumb, einem Meister der Satire: Von sexuellen Aberrationen und göttlichen Visionen.

Dass die Adaption der „Psychopathia Sexualis“ am Anfang dieses Bandes steht, ist nur sinnvoll: 1886 publizierte der deutsch-österreichische Psychiater Krafft-Ebbing seine Fallstudien von Perversion und sexuellen Abweichungen. 99 Jahre später setzte sie Robert Crumb als Comic um, und man hatte dennoch beinahe das Gefühl, eigentlich wieder einer seiner privaten Offenbarungen beizuwohnen. Denn zur Zentralfigur der Underground-Comics wurde Crumb durch hemmungslos offenen Umgang mit seinen eigenen Obsessionen, ohne jegliche Angst vor Obszönität: Seine „abnorme Angst vor Frauen“ hat er als eine Triebfeder seines Schaffens identifiziert. Nicht nur seine berühmteste Kreation „Fritz the Cat“ war keiner Droge und keinem Geschlechtsverkehr abhold und brachte es so zur Gegenkultur-Ikone. Die sexuellen Abenteuer und perversen Neigungen von Crumbs Figuren brachten in Deutschland einige seiner Werke auf den Zensurindex. Seine zahlreiche Bewunderer verteidigten ihn indessen als einen Rabelais unserer Tage, einen Meister der subversiven Satire.

Die Indizierungen sind längst verjährt, der deutsche Verlag Reprodukt (bei dem einst die – längst vergriffene – deutsche Ausgabe von „Fritz the Cat“ erschienen ist) macht sich nun an eine Neuausgabe des Crumb-Œuvres, prestigeträchtig (und gut) von Harry Rowohlt übersetzt, mit sorgfältigem „Hand Lettering“, was angesichts der Textmengen in diversen der gezeichneten Kurzgeschichten entscheidend ist. Etwa die titelgebende: „Nausea“ ist die Adaption eines Stücks aus Jean-Paul Sartres Klassiker „Ekel“, eine Restaurantszene im Zeichen angewiderter Erkenntnis, umgesetzt als klaustrophobische Abfolge von Panels, die in beunruhigender Schräglage über die Seiten wabern.


„Kafka für Anfänger“. Einen „Classischen Comic“ stellen Crumb und Rowohlt der Sartre-Umsetzung voran. Andere einschlägig benannte Exemplare unter den sieben wohlgewählten Geschichten aus den Jahren 1981 bis 1999 belegen, dass Crumbs Hang zur literarischen Klassik (als nächster Crumb-Band bei Reprodukt kommt „Kafka für Anfänger“) für ihn kein Hindernis ist, seiner Berufung zu frönen, nämlich „die ungemein säuischsten Comics zu zeichnen, die es gibt“. So extrahiert er aus „Boswells Londoner Tagebuch 1762–1763“ zielstrebig dessen amouröse Abenteuer, die prompt zur Begegnung mit „Signore Gonorrhöa“ führen – und kombiniert sie zielsicher mit Boswells hochtrabendem, mehr oder minder philosophischen Geplänkel mit anderen Herren. Vor Dr. Johnson kriecht sein späterer Biograf natürlich schon da erheiternd zu Kreuze: Zur Satire braucht Crumb gar nicht mehr viel beizutragen.

So ist auch die Umsetzung der „Psychopathia Sexualis“ eine – jedenfalls aus Crumb'scher Perspektive – ganz natürliche Sache. Schließlich hat er sich dabei vergleichsweise zurückgehalten und sich mit weniger verstörenden Fallbeispielen begnügt: Vom „Sadi-Fetischismus“ eines durch Frauentaschentücher haltlos erregten Kaufmanns über Selbstverstümmelungslibido bis zu „impulsiver Sodomie“.

Letztere wirkt bei Crumb kaum ungewöhnlich, zumal nicht nur sein berühmter Kater Fritz eindeutig anthropomorphen Ausschweifungen frönt: Mit „Die Abenteuer von ,Wichita‘ – Ratte und Tänzerin“ gibt es im Band auch ein verwandtes Stück Hippie-Persiflage. Und hat der Comic-Künstler nicht im schönen Dokumentarfilm „Crumb“ (1994) seines Freundes Terry Zwigoff erklärt, wie er in jungen Jahren durch den Anblick von Bugs Bunny erregt worden ist? Auch die Stiefelschlecker-Episode der „Psychopathia Sexualis“ erinnert an Crumbs dortige Reminiszenzen an die Stiefel seiner Tanten.


Voodoo-Fluch und Irrenhaus. Bei der Krafft-Ebbing-Adaption setzt Crumb auf eine Kombination von Kupferstich-Ästhetik und karikaturistischen Elementen, in „Jelly Roll Mortons Voodoo-Fluch“ huldigt er der Legende um den Absturz des Bandleaders (und dem eigenen Faible für Jazz und Blues) in ganz anderem Stil: Statt faktenbasierten Schraffur-Sequenzen gibt es da eine übernatürliche Moritat mit Negativflächen und starken Kontrasten. Die enorm einflussreiche ästhetische Bandbreite Crumbs untermauert der Band durch diverse Beifügungen aus Skizzensammlungen: faszinierende Zeichnungen nach den Fotografien von Patientinnen einer Irrenanstalt in Surrey um 1850 sowie Studien zu einer Sexszene nach anonymen Erotikmemoiren aus derselben Ära.

Dass das unheimlich Komische bei Crumb immer nahe am Unheimlichen ist, demonstriert auch die Bilderzählung „Die religiöse Erleuchtung des Philip K. Dick“: Darin bebildert Crumb Dicks Text „The Last Testament“ über die „Visionen der Apokalypse“, von denen der große Science-Fiction-Autor 1974 heimgesucht worden ist – und die ihn sein restliches Leben beschäftigt haben: Waren sie psychotischen oder doch göttlichen Ursprungs? Für Crumb gibt es keinen Anlass, das Mysterium zu lösen, stattdessen scheint er seelenverwandt in die Wahnvorstellungen Dicks eintauchen zu wollen. Das Gegenstück dazu bietet die selbst geschriebene letzte (und längste) Geschichte des Bandes, vielsagend „Böses Karma“ betitelt.

Die ist im grotesken Underground-Stil gehalten, und auch sonst typisch: Der Star ist als Trottel ausgewiesen, der nach abartigen sexuellen Einlagen in die Wüste geschickt und dann von einer göttlichen (oder psychotischen?) Hand Richtung Abgrund gedrängt wird. „Dein Job: Spring!“, ist die Anweisung Gottes (oder Crumbs). Er springt – und es folgt ein zweiseitiges Intermezzo, in der eine von Crumbs bekanntesten Kreationen, der dubiose Guru Mr. Natural, zur Publikumsbeschimpfung schreitet. Dann darf der Trottel in den Armen einer üppigen Crumb-Überfrau erwachen und sich u.a. zwischen ihren Beinen verlustieren. Das klitzekleine Ende mit Schrecken kommt trotzdem. Da versteht man auch wieder, was Crumb mit Existenzialisten wie Sartre verbindet. Seit Dekaden lebt er in Frankreich: Das Land findet er auch „nicht perfekt, aber etwas weniger böse als die USA“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.01.2013)

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