„Das Mädchen wirft den Frosch an die Wand!“

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Viel Wissen über den Menschen sei heute verloren, meint der Schweizer Germanist Peter von Matt. Ein Gespräch über vergessene Urgeschichten, den Wert des „Alten“ und den „Narzissmus der Gegenwart“.

Die Presse: Eine unvermeidliche Frage: Was halten Sie davon, das Wort „Negerlein“ aus dem Kinderbuchklassiker „Die kleine Hexe“ zu streichen?

Peter von Matt: Für mich zeigt das, dass die gesellschaftliche Überwachung wieder zunimmt. Gerade bei solchen Dingen kann man Kindern einen Begriff von Veränderung, Geschichte vermitteln, für die ist das rasend interessant.

Man hat den Eindruck, Kinderbücher sind überhaupt sehr vorsichtig geworden.

Das meine ich mit der zunehmenden Überwachung. Die Kinder haben auch ein viel neugierigeres Verhältnis zu Schroffheit, Rohheit, Grausamkeit. Sie wissen, dass es das gibt, sie leben unter Gleichaltrigen in einer viel härteren Gesellschaft, als die Erziehungspraxis der Eltern es heute ist. Aber das überlebt nur noch bei absoluten Klassikern wie „Max und Moritz“ oder dem „Struwwelpeter“. Den Struwwelpeter wollten die Kinder, die waren so vernarrt in ihn! Das war ein mythischer Fund, dieses Kind, das jede Erziehung verweigert. Aber wäre er nicht bis heute so populär, wäre er längst verboten.

Aus der „Kleinen Hexe“ sollen auch veraltete Ausdrücke wie „Schuhe wichsen“ entfernt werden. Bei anderen Texten ist das Problem der Sprachschranke freilich viel größer. Wenn unglaubliche Werke der mittelalterlichen Literatur wie „Tristan und Isolde“ oder der „Parzival“ nicht mehr gelesen werden können, wäre es nicht eine Bringschuld der Germanisten, diese Texte mit Bearbeitungen immer wieder verständlich zu machen?

Man könnte auch sagen: der Schriftsteller. Warum soll nicht einer den „Tristan“ so attraktiv und doch philologisch zuverlässig neu schreiben, wie Raoul Schrott das macht. Eine große Gefahr heute ist, dass man die verbindlichen großen Geschichten nicht mehr voraussetzen kann. „Tristan und Isolde“ ist eine solche Urgeschichte, mindestens die Story müsste man vergegenwärtigen. Worauf kann ich noch Bezug nehmen? Es gibt nur noch einen Kernbestand von Märchen, aber meine Studenten wussten nicht einmal mehr, dass im „Froschkönig“ das Mädchen den Frosch an die Wand wirft, sie protestierten: Das Mädchen küsst doch den Frosch! Dabei ist das die Disney-Version.

Sie haben vor Jahrzehnten über Franz Grillparzer promoviert. Er wird derzeit kaum gespielt, nicht einmal in Österreich. Zu Recht?

Grillparzer ist wahrscheinlich der größte Psychologe unter unseren Klassikern. Aber in Deutschland ist er ein toter Hund. Das hat schon seine Gründe, sein verbissenes Festhalten am Versdrama... Aber Texte wie seine Autobiografie oder der „Arme Spielmann“ sind grandios, auf der Höhe seines Jahrhunderts, also wenn er das aufs Theater hätte übertragen können oder wollen...

Fehlt heutigen Theaterleuten auch das Sensorium für diese Psychologie?

Das Theater ist ohnehin in einer schwierigen Situation, was das Verhältnis zu den Texten angeht. Man verwendet sie als Material für die Aufführung – dabei können tolle Dinge entstehen, aber die Feinstruktur der Texte, auch die psychologische, geht flöten.

Ein Beispiel?

Der große Durchbruch mit Shakespeare war, dass die Figuren im Lauf des Stücks einen Prozess durchmachen, das ist entscheidend in der großen Theatertradition. Heute gibt es diese Identitätskurve nicht mehr. Der Regisseur macht sich ein Bild von der Figur: Die Maria Stuart ist so und so, das ist eine starke Frau etc. Und so bleibt sie bis zum Schluss.

Für Dramen früherer Jahrhunderte braucht es auch ein gewisses historisches Bewusstsein.

Ja, und das historische Denken ist durch einen Narzissmus der Gegenwart gefährdet, die Vorstellung, so wie heute war es noch nie. Alles, was früher war, erscheint als defizitärer Einheitsraum. Dabei sind wir nicht höher entwickelt oder wissen mehr über den Menschen, im Gegenteil! Sehr vieles ist vergessen und verloren gegangen.

Das rechtfertigt auch die Geisteswissenschaften.

Ja, wir haben die Verantwortung für die Vergangenheit! Die Geisteswissenschaften haben keinen Grund zur Demut. Gerechtigkeit, Steuerdiskussion, Asylantendiskussion, Menschenrechte – dahinter stehen Dinge, die die Literatur immer wieder aufs Tapet gebracht, nachfühlbar gemacht hat. Das Erkenntnispotenzial der Literatur ist ungeheuer, auch für drängendste Probleme unserer Zeit.

Ich glaube, die Empfänglichkeit für Historisches ist groß, wenn man nur zündende Punkte findet.

Wie das Gedenken an den Beginn des Ersten Weltkrieges 1914. Das wird unser Geschichtsbild wieder verändern. Bis jetzt war die unmittelbare Vergangenheit bestimmt durch den Zweiten Weltkrieg, besonders den Holocaust. Sogar der politische Aspekt des Kriegs wurde gleichgesetzt mit der Judenvernichtung, dabei war das etwas ganz anderes, dafür hätten die keinen Krieg gebraucht! Aber hinter der Hitler-Zeit war eine Art Vorhang. Im nächsten Jahr wird man zum ersten Mal wieder sehen, wie schauerlich dieser Krieg war mit seinen Abermillionen Toten, wo alle auf diesem Kontinent einander umgebracht haben und umbringen wollten. Das kann nicht ohne Wirkung auf die europäische Politik, das europäische Bewusstsein bleiben.

Kann man über „Wandrers Nachtlied“ oder „Mondnacht“ schreiben, ohne sich rechtfertigen zu müssen, weil es dazu „nix Neues“ gebe?

Es ist ein Irrtum zu glauben, über die berühmtesten Gedichte sei alles gesagt. Die Ergebnisse der Wissenschaft kumulieren sich auch nicht immer. Vieles fällt wieder weg, grandiose Erkenntnisse können verloren gehen. Die Debatte über Gender-Forschung, über den Clash zwischen Islam und westlichem Frauenbild haben an „Medea“ eine ganz neue Interessenlage geschaffen. Und darum geht es: Altes zu einem Erkenntnisinstrument für unsere Gegenwart zu machen – nicht, es zu aktualisieren, es ist von Haus aus aktuell!

Zur Person: Peter von Matt

„Liebesverrat“ oder „Die Intrige“ sind Bücher, mit denen der Schweizer Literaturwissenschaftler (geboren 1937) begeistert. Bis zu seiner Emeritierung lehrte er in Zürich, 2012 erhielt er den Schweizer Buchpreis. Von Matt war kürzlich in „Zweifels Reflektorium“ im Burgtheater zu Gast.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.02.2013)

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