Jan Wolkers: Sex als Sprachkunstwerk

Sprachkunstwerk
Sprachkunstwerk(c) Alexander Verlag
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Die Neuübersetzung des berühmten Romanskandalerfolgs von Jan Wolkers wird dem großen niederländischen Autor erstmals gerecht: Rasender Nachruf auf eine Amour fou.

Das etwas eigenartige Motto lässt kaum ahnen, welche Erregung das Buch beim Erscheinen hervorrief: Ein Dialog aus einem „Tim und Struppi“-Comic zwischen zwei Schurken, wer der größere Bösewicht sei. Dafür ahnt man (zu Recht): Der Autor hat Humor.

Dass der Roman „Türkischer Honig“ vom Niederländer Jan Wolkers 1969 einen Sturm der Entrüstung provozierte, hatte einen banaleren Grund: die explizite Beschreibung von Sex. In einer Sprache, deren Bildhaftigkeit packte und verblüffte. Mit zeitgemäßer Rebellenhaltung spaltete Wolkers die Nation, deren konservative Provinzen wenig vom internationalen Freigeistimage der Hauptstadt Amsterdam hielten. Nicht nur die wissende Kunstbetriebsatire im Roman trifft eine verknöcherte Gesellschaft, die sich jedoch liberal gibt. Sogar mit seinen Herausgebern hatte der Autor gestritten: Diese hatten gemeint, er solle seine offenherzigen Darstellungen genießbarer machen, indem er Teile des sexuellen Vokabulars durch lateinische Begriffe ersetze – was Wolkers unter Berufung auf Deutlichkeiten in der Bibel ablehnte.


Autobiografisch inspiriert. Das sagt einiges über diesen Sohn aus streng calvinistischem Provinzhause, der sich als Teenager losgesagt und den Aufbruch einer Generation aus dem erstickenden Nachkriegsklima gelebt hat. Wolkers (1925–2007) wurde so berühmt wie berüchtigt, galt vielen als vierter wichtiger Erfolgsautor von Hollands Nachkriegsliteratur (neben den „Großen drei“: Harry Mulisch, Gerard Reve, Willem Frederik Hermans). Sein bildhafter Stil lässt dabei ahnen, dass Wolkers vor allem in anderen Künsten reüssiert hat, als Bildhauer und Maler. Stipendien haben ihm Studien auf Auslandsreisen u.a. in Paris und Salzburg ermöglicht.

Seine Literatur war meist autobiografisch inspiriert: „Türkischer Honig“ verarbeitet seine kurze, intensive zweite Ehe, die erste war nach dem Unfalltod eines Kindes in die Brüche gegangen. Eros und Thanatos verschränken sich auch im Buch: die Geschichte einer hemmungslosen Amour fou, in Rückblenden – jaulender Nachruf auf eine vermeintlich freie Liebe, die sich ganz im Geschlechtlichen ausdrückt.

„Mein Leben war voll abgeschmiert, nachdem sie mich verlassen hatte. Ich arbeitete nicht mehr, ich aß nicht mehr“, beginnt das erste Kapitel: „Ich lag den ganzen Tag im versifften Bett und holte mir einen runter, Fotos und Nacktaufnahmen von ihr direkt vor meinem Gesicht.“ Körperlichkeit und Vitalität sind die Triebfedern des Romans, dessen relativ kurze Episoden wie in einem Atemzug erzählt wirken.


Ekstase im Jazzrhythmus. Die animalische Getriebenheit des Ich-Erzählers (ein Bildhauer, wie Wolkers) sorgt für enormen Drive, das Rhythmusgefühl ist den Jazzklassikern ebenbürtig, denen die Liebenden zwischen Stunden der Leidenschaft lauschen. Sex als Sprachkunstwerk: Wolkers feiert Entgrenzung, lässt zugleich die Beschränkungen schmerzlich spüren – auch, was die eigene Literatur angeht. Vielleicht lässt sich das merkwürdige Motto verstehen, indem man die Sprache selbst als besten Bösewicht begreift: Wie die Ekstase verspricht sie ein Entkommen, das illusorisch bleiben muss.

Das Glück ist ganz vom Narzissmus des Erzählers geprägt, rundherum wuchert zusehends Verfall: Körperausscheidungen und Tierkadaver säumen die Erzählung, die eruptive Intensität des Erlebens verstärkt das Bewusstsein für den Tod. Erst stirbt der sympathische Papa der Geliebten, eine der köstlichsten Charakterminiaturen dieses bei aller Rasanz genau beobachteten Buchs: Eingeführt wird er einem charakteristischen, virtuosen Ungustostückerl – über Popel-Berge, die er im Lauf der Jahre auf der Unterseite seines Stuhls „gebaut“ hat. Das Wiedersehen des Liebespaars ist von ihrer Krebserkrankung überschattet: Nur noch türkischen Honig kann sie kauen.

Daher der Titel der ungekürzten Neuübersetzung im Alexander-Verlag, die Wolkers erstmals gerecht wird. Der Roman erschien einst als „Türkische Früchte“ auf Deutsch, 1973 wurde die (großartige) gleichnamige Verfilmung durch Paul Verhoeven nochmals zum Skandalerfolg, 1999 wählte man sie zum besten holländischen Film des Jahrhunderts. Wolkers selbst hat übrigens die wichtigsten niederländischen Literaturpreise abgelehnt. Vielleicht, weil er um die Vergänglichkeit der Dinge wusste: Bei aller Beschwörung der prallen Lebenskraft ist sie es, wovon „Türkischer Honig“ wirklich handelt.

Neu Erschienen

Jan Wolkers
„Türkischer Honig“,
übersetzt von
Rosemarie Still,
Alexander-Verlag,
240 Seiten,
17,90 Euro.
Steye Raviez

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.03.2013)

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