US-Philosoph Asma: "Fairness ist unsere neue Religion"

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Das Dogma totaler Unparteilichkeit degradiert uns zu "ethischen Bürokraten", warnt der amerikanische Philosoph Stephen T. Asma im Gespräch mit der "Presse". Er rät zu einem fürsorglichen Nepotismus mit Augenmaß.

Die Presse: Heutzutage findet es jeder gut, fair zu sein. Sie hingegen kritisieren die Fairness. Wieso?

Stephen T. Asma: Weil sie für jeden etwas anderes bedeutet. Die Konservativen sehen Fairness als rein meritokratisch: Wer als Erster ins Ziel kommt, verdient den Siegespreis. Für die Liberalen hingegen ist Fairness ein egalitäres Prinzip. Diese Sichtweisen widersprechen sich. Ich denke, wir sind besser dran, wenn wir diese Sprache über Bord werfen und von Gerechtigkeit sprechen.

Wir leben im Westen bisweilen in der Vorstellung, dass Menschen egoistisch geboren und erst zu verträglichen Mitgliedern der Gesellschaft erzogen werden müssen. Woher kommt das?

Ich denke, das ist eine Verbindung des christlichen Begriffs vom gefallenen Wesen, das von Geburt an von der Sünde korrumpiert wird, und einer säkularen, Freudschen Idee, derzufolge wir von einem egoistischen Es getrieben sind, das von einem ebenso eigensinnigen Ich gemanagt wird. Diese Ideen verbinden sich gut. Sie lassen aber die viel wichtigere Ebene unseres Verhaltens völlig aus, die wir heute nicht mehr erfassen können, weil uns unser ethischer Wortschatz im Stich lässt. Menschen können nämlich sehr wohl von sich aus äußerst selbstlos sein – und zwar für ihre Verwandten und Freunde.

Die Aufklärung hat uns aber die Idee geschenkt, dass man alles einer allgemein gültigen Norm unterwerfen kann: vom Kosmos über die Malerei bis zu Justiz und Politik. Wie weit kann diese aufgeklärte Standardisierung noch gehen?

Ich fürchte, sie ist schon zu weit gegangen. Die berühmteste Form dieser Idee ist der Utilitarismus. Er sagt: Man muss das größtmögliche Glück einer größtmöglichen Zahl von Menschen maximieren. Man dachte, das sei die unparteiischste Vorgangsweise. Das führt uns aber zum „ethischen Bürokraten“: jemand, der Ethik als reine Kosten-Nutzen-Analyse sieht. Und das lässt die wirklich wichtigen Aspekte unseres Wertesystems aus. Stellen Sie sich zum Beispiel vor, Sie stehen vor einem brennenden Haus und können nur eine von zwei Personen retten: den Präsidenten der USA oder ein Zimmermädchen, das Ihre Mutter ist. Retten Sie also eine wichtige Persönlichkeit oder Ihre Mutter? Ich würde jederzeit meine Mutter retten. Erst solche Bindungen geben dem Leben Sinn.

Was heißt das für Politiker? Kann ein Minister ein guter Bruder sein und zugleich den Eindruck vermeiden, dass er seine Familie protegiert?

Als Politiker habe ich natürlich Pflichten gegenüber der Öffentlichkeit, die ich als privater Bürger nicht hätte. Aber das heißt nicht, dass ich nun meine familiären Verbindungen lösen muss. Ich behaupte, dass es eine Ebene des Nepotismus gibt, die akzeptabel und sogar gesund ist, und eine andere, die Korruption ist. Den Unterschied erkennen wir nicht anhand einer abstrakten Regel, sondern durch praktische Vernunft, von Fall zu Fall.

Ersetzt Fairness heute die Religion?

Ja. Nehmen Sie die Umweltbewegung. Da gibt es alle Merkmale von Religiosität: die moralische Empörung über Leute, die ihren Müll nicht recyceln, die Warnung vor einer Apokalypse. Fairness ist insofern die neue Religion geworden; wir sind ständig auf der Hut, um die Orthodoxie zu bewahren. Jeder muss Fairness gleichermaßen anwenden, sonst versündigt er sich gegen die Moralität. Das ist eine dominante westliche Sichtweise – aber sie wird definitiv nicht im Osten geteilt, vor allem nicht in China. Dort gibt es andere Vorstellungen von Moral, die mit Ehre, Loyalität, Reinheit zu tun haben.

Wie erklären Sie die Paradoxie, dass der Kommunismus – die egalitärste aller Ideologien – ausgerechnet im nepotistischen China floriert?

Meine Theorie ist, dass das nur dem Namen nach Kommunismus ist. Dort gibt es Kapitalismus und eine Partei, die sich kommunistisch nennt. Doch die Idee, dass man Parteitreue erzeugt, indem man die Kernfamilie zerstört, war ein Desaster. Das hat weder unter Mao noch unter Pol Pot in Kambodscha funktioniert. Und es wird nie funktionieren.

Sie appellieren dafür, eine neue universelle Ethik sozialer Gerechtigkeit zu schaffen. Welche?

Mein Buch ist eher die Frage als die Antwort. Klar muss es faire Justizverfahren geben, in denen die Menschen gleich behandelt werden. Aber es funktioniert nicht, wenn man diese staatliche Ethik auf der Ebene des täglichen Lebens anzuwenden versucht, also dort, wo die Leute einfach nur brav arbeiten und ihre Kinder ernähren wollen. Die Dynamik der Kernfamilie, die Fürsorge, die sich nicht auf alle, sondern nur auf bestimmte Menschen erstreckt, könnte insofern der Grundstein für eine breitere gesellschaftliche Ethik sein. Das würde ich gern sehen.

Wann haben Sie sich selber zuletzt dabei ertappt, wie Sie sagen: „Das ist aber unfair“?

Ich fürchte, ich sage das fast täglich. Aber ich versuche mich zu zügeln. Das ist so tief in unserer Sprache verwurzelt, dass wir es stets sagen, wenn etwas unbefriedigend ist.

Sind Sie schon einmal dadurch in Verlegenheit geraten, dass Sie jemand unfair bevorzugt hat?

Sicher. Aber nicht, weil ich dachte, dass es falsch war. Die peinliche Berührtheit kommt eher daher, dass es sozial so stark stigmatisiert wird. Das ist bemerkenswert scheinheilig: Jeder, den ich kenne, sogar der lauteste Anwalt der Fairness, hat irgendwann von Gefallen seiner Freunde oder Familie profitiert.

Zur Person

Stephen T. Asma (*1966) ist Fellow der Forschungsgruppe „Mind, Science and Culture“ am Columbia College Chicago. Dort untersucht er Gehirn und Bewusstsein mit den Mitteln der Neurologie, Verhaltensbiologie und Geistesgeschichte. Sein neues Buch „Against Fairness“ ist soeben auf Englisch erschienen. [The University of Chicago Press]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.03.2013)

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