Sören Kierkegaard: Das soll Philosophie sein? Und ob!

Sören Kierkegaard
Sören Kierkegaard(c) Wikipedia
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Am Sonntag jährt sich zum 200. Mal der Geburtstag des dänischen Denkers. Der verschrobene, depressive Einzelgänger schuf eine Philosophie der Existenz, die jeden angeht.

Arme Regine! In allzu jungen Jahren geriet Fräulein Olsen an diesen verklemmten Studenten. Erst nach zwei Jahren gestand er ihr beim Klavierspiel seine Gefühle. Doch kaum hatte er sich mit ihr verlobt, ging er auf Distanz und verkroch sich in Grübeleien über Hegel und Gott. Elf Monate später folgte der Abschiedsbrief samt beigelegtem Ring: Er sei eben für die Ehe nicht geschaffen, erklärte der angehende Philosoph und Theologe Sören Kierkegaard mit gespielter Kälte. Welch Schock, welch Schande! Und anno 1841 natürlich Stadtgespräch im besseren Kopenhagen.

Später deutete der notorische Einzelgänger, dessen Geburtstag sich am Sonntag zum 200. Mal jährt, Düsteres an: Seine Depression, die damals noch „Schwermut“ hieß, und sein einsames Ringen ums wahre Christentum hätten jedes Zusammenleben unmöglich gemacht. Und dann auch noch die Sache mit seinem Vater, der in seiner Jugend Gott verfluchte, ein Fluch, der nun auf ihm lastete und von dem er seinem Mädchen nie erzählen durfte! Mit einem Wort: Dieser Sören war ein Spinner.

Regine Olsen aber litt und trauerte ihrem Kierkegaard lange nach. Erst spät kam sie mit ihm ins Reine: als ihr klar wurde, wozu sie ihn inspiriert hatte. Dem Trauma einer gescheiterten Beziehung zu einem dänischen Teenager verdanken wir ein Feuer- und Bergwerk an Reflexionen, die in die Geistesgeschichte eingingen.

Denkraum distanzierter Ironie

Kierkegaard vertrieb die Philosophie aus der Sphäre lebensferner Spekulation. An ihre Stelle setzte er ein leidenschaftliches Denken, das uns alle angeht. Wer ihn liest, weiß nach einer halben Seite: Hier wird meine Sache verhandelt, meine Chance und mein Scheitern, meine Verzweiflung und meine Möglichkeit des Glücks.

Man erwarte sich keine Predigt. Gott, der hier durchaus außen vor bleiben darf, behüte! In seinen philosophischen Schriften sprüht Kierkegaards Sprache vor melancholischem Charme, kokettiert mit Eros und Sentiment und schafft einen befreiten Denkraum voll distanzierter Ironie. Dazu verhelfen dem Autor die Pseudonyme, hinter denen er sich versteckt. Er erfindet Gestalten, deren Positionen er dialektisch gegeneinander ausspielt. Die Sekundärliteraten dürfen beherzt darüber streiten, was Kierkegaard selbst für wahr und richtig hielt.

Fast postmodern präsentiert sich sein frühes Hauptwerk „Entweder – Oder“, der Geniestreich eines 29-Jährigen. Darin steckt, auf halbem Weg, das „Tagebuch des Verführers“: eine Gebrauchsanweisung dafür, wie ein Mann, dem die sinnliche Wucht des Don Juan fehlt oder verloren ging, trotzdem ein Mädchen rumkriegt – um ihr nach der Liebesnacht sogleich schnöde den Rücken zu kehren. Als sinnstiftender Kontrapunkt zu diesen Abgründen des herzlosen Hedonismus schwärmt ein Gerichtsrat von der schönen Harmonie des Ehelebens.

Das soll Philosophie sein? Und ob! Denn wie immer beim dänischen Menschenfischer geht es ums Ganze: Wie sollen wir leben, im verzweifelten Wissen um unsere Endlichkeit? Der Ästhetiker kostet in jedem Augenblick mit allen Sinnen aus, was das Leben ihm bieten kann: Kunst, Reisen, Liebesabenteuer. Der Ethiker hingegen bindet sich, lebt für andere, schreibt sich mit seinen schwachen Kräften in die Geschichte ein – indem er heiratet, Kinder aufzieht, in seinem Beruf das Beste gibt. Wie spießig, höhnt da der Ästhetiker! Der Gerichtsrat kontert: Auch die treue Liebe gilt es jeden Tag zum Klingen zu bringen, erst in der Wiederholung findet das Leben zur wahrhaft ästhetischen Form.

Indirekt ergreift Kierkegaard hier doch Partei: Der Ästhetiker verzweifelt, dem Ethiker geht es gut. Nur wer tugendhaft handelt, dem kann das Leben gelingen: Das war für die Griechen noch selbstverständlich. Uns Heutigen aber steckt der kategorische Kant, der die sittliche Pflicht quer zum Glücksstreben stellt, so tief in den Knochen, dass wir die Gleichsetzung nur als nicht bezwecktes Resultat akzeptieren: Wer moralisch handelt und dabei auf das Glück schielt, muss scheitern. Nur wer um der Tugend selbst willen tugendhaft ist, dem fällt das Glück als eine Art Kollateralnutzen zu. Auf jeden Fall erweist sich „Entweder – Oder“, dieser gedankenschwere Wälzer, als das überzeugendste Selbsthilfebuch der Philosophiegeschichte.

Kierkegaard ging freilich weiter. Das mit der ethischen Lebensweise hatte er ja nicht hinbekommen, und wer gesteht sich schon gern sein Scheitern ein? „Victor Eremita“, der siegreiche Eremit, nennt  sich der „Herausgeber“ von „Entweder – Oder“. Dieser Name deutet ein Drittes an: die religiöse Lebensweise. Sie stehe auch über der Ethik, die den Einzelnen unter das Joch des Allgemeinen zwingt.  So landet Kierkegaard beim abgründigsten aller christlichen Mythen: dem von Abraham, der seinen Sohn Isaak opfern will – nach unserem moralischen Koordinatensystem nichts anderes als ein Kindsmord. Nur im religiösen Kontext folgt hier ein Frommer dem Gebot seines Gottes. An der Religion, folgert Kierkegaard, zerschellt jede Vernunft. Der Glaube ist ein Sprung ins Irrationale. Eine Heldentat? Camus sah darin später nur eine feige Ausflucht, mit der sich Kierkegaard aus der Affäre zieht – auch aus der um Regine.

Was verstand Adam, als Gott ihn warnte?

Ein anderer Samen ging auf: „Der Begriff Angst“. Hier traf der bohrende Bibelexeget den Nerv der Moderne: Was verstand Adam, als Gott ihn vor der Schlange warnte? Sünde, Schuld, Zweifel und Sterblichkeit – all das war dem ersten Menschen doch fremd in der Geborgenheit des Paradieses. Was sich da plötzlich in ihm regte, war nicht die Furcht vor einer konkreten Bedrohung, sondern eine diffuse Angst: der Schwindel vor dem Möglichen, das wir durch unser Handeln realisieren – vor der menschlichen Freiheit, die unsere empirische Wissenschaft leugnet und unsere existenzielle Erfahrung verbürgt. Ohne das radikale Pathos der Freiheit, das Kierkegaard weckte, wäre weder Heideggers Fundamentalontologie noch Sartres Existenzialismus denkbar – die erregendsten Abenteuer in der Philosophie des 20. Jahrhunderts.

Sören selbst aber endete als vereinsamter, verschrobener Querulant, der in Flugblättern gegen die dänische Amtskirche wetterte und damit das väterliche Vermögen verpulverte. Schon mit 42 Jahren erlag er einem Schlaganfall. Regine hingegen wurde alt, fand ihr Glück in Form eines gewissen Herrn Schlegel und fuhr mit ihm ein in den ruhigen Hafen von Ehe und Ethik.

Wer von den beiden, der Philosoph oder seine paradoxe Muse, lebte das erfülltere Leben? Kierkegaard hätte über solche Fragen wohl ironisch gelächelt. Er hätte uns zwei, drei, vier Pseudonyme aufgetischt und sodann wortreich uns selbst überlassen – unserer je eigenen, unvertretbaren Existenz.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.05.2013)

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