Lavie Tidhar: Osama, Held eines Groschenromans

Lavie Tidhar Osama Held
Lavie Tidhar Osama Held(c) Rogner & Bernhard
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Der israelische Autor Lavie Tidhar schreibt über eine Welt, in der Terrorismus nur in der Fantasie existiert. Terrorpate Osama bin Laden ist darin nur irgendein fiktiver Bösewicht.

Was wäre, wenn es den Terrorpaten Osama bin Laden nie gegeben hätte? Und er nur der fiktive Held einer Groschenroman-Serie wäre? Der israelische Autor Lavie Tidhar hat seiner Fantasie freien Lauf gelassen und mit „Osama“ das wohl bislang ungewöhnlichste und gleichzeitig entspannteste Buch über die hochstilisierte Ikone des weltweiten Terrorismus geschrieben.

Tidhar bedient sich eines Kunstgriffs, indem er die Paranoia der Zeit nach 9/11 in eine Welt transportiert, in der Terrorismus nur in der Fantasie existiert. Seine Hauptfigur, der Privatdetektiv Joe, macht sich auf die Suche nach dem mysteriösen Autor Mike Longshott, der die schundhafte Kultserie „Osama bin Laden: Vergelter“ verfasst hat. Dessen Erfolgsrezept: „Fang immer mit einer großen Explosion an.“

Joes Suche beginnt bei Medusa Press, dem Verlag Longshotts, der sich auf schmutzige, pornografische Bücher spezialisiert hat, die Titel tragen wie „Ich war Kommandant Heinrichs Hure“, „Bekenntnisse einer zugedröhnten Nymphomanin“ und „Nutte“. Die Spur führt ihn schließlich nach Paris. Doch schon bald steht fest: Je mehr Joe herausfindet, desto mehr neue Rätsel stellen sich. Auf ihn wird geschossen. Männer, deren Identität unklar bleibt, verfolgen ihn. Leute, mit denen er spricht, verschwinden einfach, als hätten sie sich in Luft aufgelöst. Er verliert sich immer mehr und muss sich die Frage stellen: Was ist noch Wirklichkeit?


Kafka lässt grüßen. Denn nicht immer ist klar, was Joe erlebt und was er träumt. Kafka lässt grüßen. Nicht nur der. Tidhar zitiert endlos aus populären Filmen und Büchern. Kenner werden zum Beispiel „Casablanca“ erkennen, die Bar Blue Note taucht immer wieder auf. Das Buch kann aber auch als Hommage an Krimiautor Raymond Chandler gelesen werden. Dabei lässt sich „Osama“ nur bedingt als Krimi lesen, sondern vor allem als Fantasybuch. Tidhars liebstes Genre scheint aber der Groschenroman zu sein. „Sie stinken nach Regierung“, sagt Joe einmal, kurz bevor er von drei Männern verprügelt wird. Der Autor spielt virtuos mit Konventionen und Versatzstücken der diversen Genres.

Es ist pures Lesevergnügen, wenn die von Tidhar geschaffene Parallelwelt mit der unseren aufeinanderprallt. So versteht Joe die Logik des in den Osama-Büchern geschilderten geheimen Krieges nicht. Dieser ist für ihn so unbegreiflich, dass er eigentlich nur der Fantasie eines Autors billiger Schundhefte entsprungen sein kann. „Was zum Teufel war ein Welthandelszentrum?“, fragt er sich etwa, als er über 9/11 liest. In seiner Welt, die irgendwo in den 1950er- oder 1960er-Jahren spielt – ganz klar ist das nicht – wurden die Zwillingstürme in New York nie erbaut.


Weiße Drähte in den Ohren. An einer Stelle nimmt Tidhar sogar eine Art Selbstbeschreibung seines Buches vor, als er Joe durch den Pariser Park Monceau wandeln lässt, in dem Miniaturausgaben architektonischer Bauten zu finden sind: „Sie waren zu Kunstzwecken konstruierte Lügen, aber sie waren nicht real.“ Und Joe fragt sich: „War es wirklich Torheit, in einer Welt zu existieren, die ein Märchen war, die nicht real, sondern nur dazu gedacht war, so zu erscheinen?“

Wenn dem Autor zwischendurch die zündenden Ideen ausgehen, schleppt sich dieses ungewöhnliche Lügenmärchen dennoch immer wieder einmal seitenweise ein wenig uninspiriert dahin. Insgesamt überwiegt aber das Positive.

Das wahrscheinlich beste Kapitel trägt übrigens den Namen „Zu Hause ist es doch am schönsten“ und offenbart Tidhars feines Gespür für Ironie. Im Opiumrausch hat Joe einen Traum, in dem er zu unserer Welt vordringt. Er steht auf dem Piccadilly Circus in London und ist verwundert über seltsame Autos und Haarschnitte sowie T-Shirts „mit Werbung für Marken, von denen er noch nie gehört hatte“. „Samsung. Sanyo. Japanische Namen“, schreibt Tidhar. Fassungslos beobachtet Protagonist Joe, wie den Menschen auf der Straße „weiße Drähte von den Ohren herabhängen“. Ganz ehrlich: Mit diesem ungläubigen Staunen ist Joe nicht ganz allein.

Lavie Tidhar: „Osama“. übersetzt von Juliane Gräbener-Müller, Rogner & Bernhard, 302 Seiten, 22,95 Euro.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.07.2013)

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