Philosophie: Sicherlich gibt es mich – oder?

Der Kinderbuchklassiker der Ich-Suche ist beim Philosophicum Lech präsent: Mira Lobes „Das kleine Ich-bin-ich“ (1972).
Der Kinderbuchklassiker der Ich-Suche ist beim Philosophicum Lech präsent: Mira Lobes „Das kleine Ich-bin-ich“ (1972).(c) Jungbrunnen-Verlag
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Wieso ist uns heute Authentizität so wichtig? Und was ist das Ich überhaupt? Das fragt das Philosophicum Lech heuer. Zu Beginn glänzte vor allem Richard David Precht.

Sicherlich gibt es mich: Ich bin ich.“ Sie mussten fallen, die Worte aus Mira Lobes zauberhaftem Kinderbuch „Das kleine Ich-bin-ich“, und sie fielen – schon am ersten „richtigen“ Tag des Philosophicums Lech zum Thema „Ich“, beim Vortrag des Grazer Philosophen Peter Strasser. Das kleine Ich-bin-ich ist im Moment seiner Ich-Findung sofort mit sich selbst und seinem Ich im Reinen, es ist, was und wie es ist, und das ist gut so: ein paradiesischer Zustand. „Im postparadiesischen Leben jedoch“, so Strasser, „bedarf es einer beschwerlichen, bisweilen lebenslangen Anstrengung, um der zu werden, der man ist.“ Oder der man sein sollte.

Wer sollte man denn sein? Kein nur auf sich selbst fixierter „idiotes“, meinte Wissenschaftsminister Karlheinz Töchterle. Lieber ein „polites“, der sich um die Gemeinschaft kümmert (und auch vor dem Wahlkampf nicht zurückschreckt). Aber auch kein Hallodri (von „Allotria“), der sich nur für das andere und die anderen interessiert. Man brauche doch etwas „Oikeiosis“ (ein Lieblingsbegriff der Stoa, von Cicero als „sensus sui“ übersetzt), Interesse für sich selbst, um den Logos entfalten zu können und sich erfolgreich um die Polis zu kümmern.

So brachte Töchterle in seinem geistreichen Kurzvortrag zur Eröffnung schon ein Hauptmotiv des heurigen Philosophicums: Das Ich kann nur mit den Anderen oder gegen die Anderen gefunden werden. Auch das kleine Ich-bin-ich kommt ja erst auf die Idee, seine Identität zu suchen, als es die anderen Tiere getroffen hat, die schon eine haben.

Adam, (beinahe) so wie Gott

Und wo begann diese Kette? „Der Erste, der Ich sagt, ist Gott – und er macht gleich ein Abbild seiner selbst“, sagte Konrad Paul Liessmann beim traditionellen Präphilosophicum-Märchenabend gemeinsam mit Michael Köhlmeier. Die beiden legten zunächst ein sehr tiefes Märchen aus: die Schöpfungsgeschichte, in deren älterer Variante Gott ja die Welt nicht schafft, sondern „nur“ ordnet, das Tohuwabohu aufräumt. Dann machte er Adam als sein Ebenbild, aber – so eine apokryphe Geschichte – auf Betreiben des Erzengels Michael ein bisschen hässlicher: Ein Unterschied muss ja sein. Und warum machte er überhaupt einen Menschen? Weil ihm langweilig war, so die Antwort des dänischen Philosophen Sören Kierkegaard. Damit dem Adam nicht fad war, bat er dann um die Erschaffung der Eva. Doch dann wollten die beiden wirklich sein wie Gott – und mussten aus dem Paradies. „Wie musste Gott sich gefühlt haben, als er sein Ebenbild Adam aus dem Paradies verstieß?“, fragte Liessmann. „Hat er sich dabei nicht auch von sich selbst entfremdet?“ Samael jedenfalls, der gleich in die Hölle verstoßen wurde, weil er sich weigerte, vor Adam zu knien, habe aufbegehrt. „Nur wer aufbegehrt, erfährt, was er ist“, interpretierte Liessmann hübsch existenzialistisch: „Die Ich-Werdung des Menschen beginnt, wo er das erste Mal Nein sagt.“

Aber muss man überhaupt so penetrant sein Ich, seine Identität suchen, wie das heute geradezu verpflichtend ist? Muss man unbedingt Mündigkeit, Autarkie, Authentizität anstreben? Quält uns die Angst vor Abhängigkeit, vor Pflegebedürftigkeit, gar Demenz im Alter nicht sinnlos? Es geht auch anders, meinte Gernot Böhme aus Darmstadt: In der japanischen Kultur gelte es als Tugend, auch abhängig sein zu können, ja die Abhängigkeit von anderen zu genießen.

Also ist die Hoch- bis Überschätzung des Ich typisch für unsere heutige westliche Kultur? „Erkenne dich selbst!“, sei über der Antike gestanden, über der Moderne steht „Sei du selbst!“ Diesen Aphorismus von Oscar Wilde zitierte Richard David Precht, der in seinem bewundernswerten, völlig frei gesprochenen, so klaren wie originellen Vortrag zeigte, dass er sich die Medienpräsenz, die ihm manche Kollegen neiden, gewiss nicht nur mit seinem Aussehen verdient hat.

Precht sieht den Höhenflug des Ich in der europäischen Philosophie – also vor allem den deutschen Idealismus, mit Fichte, bei dem das Ich sich selbst „setzt“, als Höhepunkt – als Voraussetzung für den Aufstieg des Bürgertums. Für Kant wurzelte alle Erkenntnis im Ich, so waren für ihn auch Aussagen über die Welt ohne jede Empirie (die synthetischen Urteile a priori) möglich. „Damals musste sich die Philosophie noch nicht der Naturwissenschaft anbiedern“, konstatierte Precht mit eleganter Selbstironie.

Precht sieht acht Ichs

Er weiß: Heute ist das anders. Und er meint, dass es nicht Schopenhauer und Nietzsche waren, die mit ihrem „Willen“, der eben zugleich mehr und weniger als das Ich ist, den Idealismus „gekillt“ haben, sondern die per se materialistische Biologie. Genauer: die Darwin-Rezeption eines Ludwig Büchner („Kraft und Stoff“) oder eines Ernst Haeckel. Sie begannen, das Ich zu zerpflücken, im Hirn zu verorten. Hegel konnte noch über die Schädelvermessung des Franz Joseph Gall spotten, „das war eben noch ein schwacher Gegner“, so Precht. Die heutige Hirnforschung sei stärker und werde noch stärker. Eines ihrer stärksten Argumente seien die partiellen Ich-Verluste durch Hirntraumata. So schlägt Precht – sozusagen in Verfeinerung des Freud'schen Es-Ich-Überich-Modells – eine Gliederung des Ich in acht Ichs vor, in aufsteigender Reihenfolge, sozusagen vom Vieh hinauf zu Kant: Körper-Ich, Verortung-Ich, perspektivisches Ich, Ich als Erlebnissubjekt, Autorenschaft-Ich („Ich bin Urheber meiner Taten und Worte“), autobiografisches Ich, selbstreflexives Ich, moralisches Ich.

Ist also das eine, einige Ich nur eine Illusion? Hier kokettiert Precht damit, dass das Ich ebenso wie Religion und Liebe nur ein „Abfallprodukt der Evolution“ sei. Dem Fortpflanzungserfolg sei das Grübeln über das Ich jedenfalls abträglich. „Sonst müssten die Philosophieprofessoren ja besonders viele Kinder haben.“ Man wusste sofort: Dieses Thema würde in der abendlichen Philosophenbar noch ausgiebig besprochen werden. Von Ich-bin-ich zu Ich-bin-ich.


Den Vortrag von Konrad Paul Liessmann lesen Sie im „Spectrum“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.09.2013)

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