Neue Bücher: Liebe, Träume, schwarze Löcher

Neue Buecher Liebe Traeume
Neue Buecher Liebe Traeume(c) Erwin Wodicka - wodicka@aon.at (Erwin Wodicka)
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Literatur erkundet das Jenseits, malt Historie liebevoll aus. Neue Bücher entführen in in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, nach Buenos Aires und in Geheimdienstwelten.

Ulrich Tukur - Die Spieluhr

Er gehört zu den bekanntesten deutschen Schauspielern, ist auch als Musiker erfolgreich, aber Ulrich Tukur hat mindestens noch ein großes Talent: das Schreiben. Ein Schreiben, das sich liest wie aus der Zeit gefallen und eine Wohltat für all jene ist, die die Sprache der "klassischen" deutschen Erzähl-literatur lieben, kunstvoll gewundene lange Sätze noch als Tugend empfinden und sich bei Thomas Mann, Arthur Schnitzler oder E.T.A. Hoffmann zuhause fühlen. Letzterer vor allem lässt in Tukurs neuer "Novelle" grüßen. Der Erzähler reist wie Tukur vor wenigen Jahren nach Nordfrankreich, zu Dreharbeiten für einen Film über die Malerin Seraphine de Senlis. Wie Tukur spielt er den deutschen Kunstsammler Wilhelm Uhde, der 1912 auf die Bilder seiner verschrobenen Putzfrau aufmerksam wird und sie berühmt macht. Bei den Dreharbeiten verschwindet ein junger Mitarbeiter, taucht verstört wieder auf, erzählt von einem Schloss, einer Zeitreise, "wie in einem Film, in dem die Kamera langsam zurückfährt".

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Ab da rinnen Traum und Wirklichkeit, Rokoko, Weltkriegszeit und Gegenwart ineinander, Figuren stürzen durch die Zeiten, gehen rätselhafte Verbindungen ein: der junge Mann von den Dreharbeiten, Seraphine, ein deutscher Major, eine Marquise aus dem 18.Jahrhundert und ihr Geliebter. In "Die Spieluhr" sind Personen der Vergangenheit verfallen, und das ist wohl auch Tukur. Er habe als Kind nie wirklich in seiner Zeit gelebt, sondern sich in ferne Zeiten geträumt, sagt er von sich. Das tut er auch als Autor, genießerisch preziös, nostalgisch wie der Major in seinem Buch mit seiner Sehnsucht nach den "tiefblauen, in Mulden versteckten Seen" und den "Wolken, die sich in ihnen spiegeln wie Erinnerungen an eine Welt ohne Zeit..."

Ian McEwan - Honig

Mit Romanen wie "Saturday" oder "Abbitte" ist der 1948 geborene Brite Ian McEwan heute einer der auch international beliebtesten britischen Schriftsteller. Der Sohn eines Berufssoldaten ist schon als Kind viel in der Welt herumgekommen. U.a. wuchs er in Singapur und Libyen auf und erwarb in Brighton seinen Bachelor für englische Literatur. In den frühen 1970er-Jahren war McEwan ein unbekannter Student, und in dieser Zeit spielt auch sein jüngster Roman "Sweet Tooth" ("Honig"). Dessen schöne Heldin, Serena Frome, studiert zwar Mathematik, liebt aber die Literatur   vor allem, wenn sie mit einem Heiratsantrag endet. Auch sonst hat sie einiges mit dem Autor gemeinsam. Serena lässt sich mangels besserer beruflicher Aussichten vom Geheimdienst für ein Programm namens "Sweet Tooth" ködern, das verdeckt junge Intellektuelle mit einer antikommunistischen Agenda fördern soll. Sie soll sich den Schriftsteller Thomas Haley vornehmen und gerät sehr bald in einen inneren Zwiespalt, als sie sich in den jungen Mann verliebt.

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"Ich hatte mich erst in die Erzählungen verliebt und dann in den Mann. Es war eine arrangierte Ehe, eine Ehe, die in der fünften Etage gestiftet worden war, und jetzt war es zu spät, ich war die Braut, die nicht mehr davonlaufen konnte. Er war mein Projekt, mein Fall, meine Mission. Seine Kunst, meine Arbeit und unsere Affäre waren eins." "Honig" ist eine berührende Geschichte über Liebe, Vertrauen und Betrug; es ist eine Spionagegeschichte aus der Zeit des Kalten Krieges, in die der Autor viel Autobiografisches hineingepackt hat; und es ist zugleich ein Roman über die Literatur und das, was Menschen von ihr erwarten. Manche englischen Kritiker waren begeistert oder gar, wie eine Rezensentin,"zu Tränen gerührt", andere fanden, "Honig" gehöre zu McEwan schwächeren Werken, ja einer bekam angesichts des überraschenden Endes sogar Lust, "das Buch aus dem Fenster zu werfen". Aber selbst der nicht allerbeste McEwan ist immer noch ein sehr guter McEwan, geschickt verschachelt, voller Überraschungen, verspielt und komisch. "Momente der Krise und der Gefahr sind günstig, einen Charakter zu erforschen", sagt McEwan über seine Bücher: "Sie bringen die Stärken und die Defekte von Persönlichkeiten zutage, und das wiederum beflügelt den Erzähler. Es ist eine Art von ,den Kuchen haben und ihn trotzdem essen , eine erfreuliche Erfahrung."

Marisha Pessl - Die amerikanische Nacht

Vor sieben Jahren machte eine fesche Dreißigjährige aus Detroit mit ihrem Debütroman Furore. "Special Topics in Calamity Physics" ("Die alltägliche Physik des Unglücks") erzählt von einer faszinierenden, lesewütigen Jugendlichen, dessen Leben durch einen Mord durcheinandergerät. Der Roman schaffte es auf die Bestsellerliste der "New York Times" und wurde in 30Sprachen übersetzt. Deutsche Kritiker bezeichneten das Buch als "postmoderne Besserwisser- und Zitatliteratur".

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Jetzt liegt Marisha Pessls zweiter Roman, vor, auch er zieht in den Bann. Im Mittelpunkt der "Amerikanischen Nacht" steht Stanislav Cordova, der Züge von Stanley Kubrick trägt: ein geheimnisvoller Filmemacher, der seit 30 Jahren nicht an die Öffentlichkeit getreten ist und dessen Filme so beängstigend sind, dass kein Kino sie zeigen will. "Er ist ein Abgrund, ein schwarzes Loch, der erbarmungslose Ausbruch des Unbekannten in unserer überbelichteten Welt", heißt es über ihn. Ihm auf der Spur ist der investigative Journalist Scott McGrath, der Cordova die Schuld an seinem Unglück gibt. Als er vor Jahren versuchte, ihn des Kindermordes zu überführen, kostete ihn das seine Ehe, seinen Job und seinen Ruf. Als Cordovas Tochter tot aufgefunden wird, sieht er die Gelegenheit gekommen, sich am Filmemacher zu rächen. Mit allen Mitteln wie erfundenen Websites und Zeitungsausschnitten macht Pessl die dunkle Welt des Filmemachers lebendig und wirft eine verstörende Frage auf: Ist das Übernatürliche real und Cordova eine Art Brücke, durch die es in die reale Welt einsickert? Die Handlung hat Konstruktionsfehler, trotzdem hat das Buch das Zeug zum "page turner": Pessl kann Spannung erzeugen, ist stilistisch brillant und oft ganz schön witzig.

A. Pérez-Reverte - Dreimal im Leben

Nein, originell kann man diese Geschichte von Tango und heißer Liebe wirklich nicht nennen: Ein Mann und eine Frau haben einander einmal wahnsinnig geliebt, aber wieder verloren, der Zufall führt sie nach Jahrzehnten wieder zusammen. Aber nicht alles Schöne muss originell sein, und "Dreimal im Leben" bietet melancholische Romantik auf hohem Niveau. Da sieht der 64-jährige Hausmeister und Chauffeur Max Costa auf der Straße eine ältere elegante Dame und erkennt in ihr seine große Liebe: Mecha Inzunza, einst junge Ehefrau eines weltberühmten Komponisten   und er erinnert sich: an ihre Begegnung auf einem Luxusliner auf der Fahrt nach Buenos Aires, wo Mechas Mann den perfekten Tango schreiben möchte. Max ist ein Filou, ein Gigolo. Er arbeitet als Eintänzer auf dem Schiff. In Buenos Aires führt er das Paar durch die Tangobars, in die Welt des "echten", noch nicht durch die Salons gebändigten Tangos.

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Auf eine leidenschaftliche Nacht folgt die Trennung. Arturo Perez-Reverte war lange Journalist und gehört heute zu den international erfolgreichsten spanischen Schriftstellern. Wenn er jenes "alte Europa" beschwört, "das in den Tanz-cafes und Ballsälen den ,Bolero  von Ravel und den ,Tango de la Guardia Vieja  tanzte", denkt man an S ndor M rai. Der charmante Filou hat ohnehin Tradition, von Thomas Manns Hochstapler Felix Krull bis zum Typus des Gentleman-Gauners im Hitchcock-Film "Über den Dächern von Nizza". Aber "Dreimal im Leben" ist nicht nur eine sinnlich aufgeladene "Tour de nostalgie", sondern auch eine kundige Einführung in die Welt des Tangos. Eines kann man dem Roman allerdings schon vorwerfen: Er schwärmt von den rüden, ironischen Ursprüngen dieses Tanzes, kritisiert seine modische Zähmung und ist selbst die literarische Entsprechung dessen, was er kritisiert: ein eleganter, glatter Salontango.

Raja Alem - Das Halsband der Tauben

Weg mit dem Speck" heißt es nicht nur bei einer Telefonfirma, dem Motto folgt auch ein Großteil der zeitgenössischen Gegenwartsliteratur   zumindest der westlichen. Nur keine "Füllworter", nur nicht zu viel Adjektive, verschlungene Sätze! Da kann es eine Wohltat sein, mit einer Literatur in Berührung zu kommen, die völlig anderen Gesetzen folgt. "Das Halsband der Tauben" ist ein Krimi, der eine ganze Welt aufspannt: die Welt Mekkas, Heimatstadt der heute u.a. in Paris lebenden Raja Alem (Jahrgang 1970). Es ist ein Buch, füllig wie eine orientalische Matrone, die das westliche Schlankheitsideal für eine Erfindung des Teufels hält, alles in sich aufnimmt, was sie schmackhaft findet.

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Eine Gasse in Mekka mit dem zum Stil passenden Namen Vielkopfgasse tritt als Erzählerin auf, in ihr wird eine nackte Frauenleiche gefunden. "Doch es ist meine Geschichte, und ich erzähle sie, wie es mir passt. Lassen wir also vorerst die Leiche, denn was bedeutet schon eine Tote im Vergleich zu den Lebenden." So schweift der Roman unentwegt bis zum Geht-nicht-Mehr aus, zeichnet aber gerade auf diese Weise das opulente Porträt einer Stadt und ihrer Menschen. Dazu kommen üblichen Krimi-Ingredienzien: ein von Kindheitstraumata heimgesuchter Inspektor taucht in die Lebensgeschichten zweier vermisster Frauen und in die Geheimnisse aller möglichen Menschen ein,  auch in seine eigene Familiengeschichte und in zwielichtige Immobilienprojekte, die die alte Stadt zu zerstören drohen. "Das Halsband der Tauben" hat den renommierten International Prize for Arabic Fiction erhalten. Man kann sich in seinen 600 Seiten verlieren, doch Zeit und Geduld sind unerlässlich.

Eshkol Nevo - Neuland

Es ist der dritte Roman des Israelis Eshkol Nevo, eines studierten Psychologen und ehemaligen Werbetexters. Alle drei Bücher wurden in seiner Heimat zu Bestsellern. Und Nevo, Jahrgang 1971, in Jerusalem geboren, Spross einer berühmten linksliberalen Familie und Enkel des dritten israelischen Premier-ministers, wird immer besser. In "Neuland" begegnen einander zwei Israelis in Südamerika. Dori, Geschichtelehrer und leidlich glücklicher Familienvater, sucht nach seinem Vater, der nach dem Tod seiner Frau verschwunden ist und nie wieder von sich hat hören lassen. Inbar ist eine ehrgeizige Radiomoderatorin und lieblos verheiratet, an ihr nagt außerdem der Tod ihres Bruders während seines Wehrdienstes. Nach einem Besuch in Berlin, wo sie vergeblich versucht hat, ihrer Mutter wieder näherzukommen, hat sie, statt nach Israel zurückzukehren, spontan den erstbesten Flug genommen.

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In Peru treffen Inbar und Dori aufeinander, durchqueren gemeinsam den Kontinent, wobei sie sich immer stärker zueinander hingezogen fühlen, und landen in einer Gemeinschaft von Israelis, die sich "Neuland" nennt (eine Anspielung auf Theodor Herzls Roman "Altneuland", der die Utopie einer neuen Gesellschaft der Juden in Palästina entworfen hat). Diese "therapeutische Community" ist für Menschen aller Nationen offen und eine Art "alternative history" zum realen Israel   eine ideale Gemeinschaft, wie sie Israel hätte werden sollen, aber nicht geworden ist. "Neben jedem Paar im Kerzenschein sitzt noch ein Dritter, den einer von ihnen sich vorstellt, den einer von ihnen sich vorstellen muss, um hier sitzen bleiben zu können", sagt die Großmutter nach der Reise zu Inbar. Ob Liebe oder Politik, die Frage in "Neuland" ist dieselbe: Soll man sitzen bleiben oder aufbrechen und den Neuanfang wagen? Was Dori und Inbar machen, entscheidet sich erst ganz am Ende von fast 700 Seiten dieser wunderbar feinfühligen Liebes- und israelischen Seelengeschichte. "Es ist ein elementares Bedürfnis des Menschen zu träumen", sagt Eshkol Nevo im Interview.

Bastian Zach, Matthias Bauer - Im Zeichen des Aries

Zu zweit Romane zu schreiben ist schwer, aber manchmal kommt Großartiges heraus, wie bei den verstorbenen italienischen Krimiautoren Fruttero & Lucentini, die in ihrer Heimat oft einfach "die Firma" genannt wurden. Jetzt gibt es eine neue solche Firma, die kongenial funktioniert, und zwar in Österreich. Bastian Zach und Matthias Bauer, der eine aus Leoben, der andere aus Lienz stammend, haben vor Jahren gemeinsam Drehbücher geschrieben. Eines entstand nach dem Scheitern des Filmprojekts zu einem Roman   zum Glück: Der historische Mysterythriller "Morbus Dei: Die Ankunft" (2010) ist trotz der zweifachen Autorenschaft ein hoch professionelles, packendes Buch aus einem Guss.

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Mindestens ebenso gut ist der Nachfolgeband, "Morbus Dei: Inferno" (ein Jahr vor Dan Browns Roman "Inferno" erschienen). Nun ist der dritte Teil da, "Morbus Dei: Im Zeichen des Aries". Die Trilogie, in deren Mittelpunkt die rätselhafte Krankheit "Morbus Dei" steht, begann Ende des 17. Jahrhunderts in einem Tiroler Bergdorf, in dem Unheimliches geschah: Menschen verschwanden, Tie-re wurden tot aufgefunden, in den Wäldern trieben vermummte Gestalten ihr Unwesen. In Band zwei wanderte die Krankheit nach Wien, nun ist sie zurück in Tirol. Diesmal ist das ganze Habsburger-Reich in Gefahr. Was die "Morbus Dei"-Romane über die verlässlich  Gänsehaut erzeugende Handlung hinaus so reizvoll macht, ist das historische österreichische Lokalkolorit, und wie die Geschichte in das Leben der "einfachen Leute" um 1700 eingebettet  ist. Zu alledem kommt das sympathische Liebespaar Johann und Elisabeth, dessen Schicksal man gern durch alle drei Teile folgt   und hoffentlich noch durch weitere.

Perri Knize - Der verlorene Klang

Diese Liebeserklärung an das Klavier stammt von einer Amerikanerin, beginnt aber trotzdem in Österreich: mit Christian Maier, Förster und Revierleiter im 4500ha großen Revier 381F1 der Östereichischen Bundesforste. Er hat zu entscheiden, welche Bäume gefällt werden sollen, und entscheidet sich für eine 120 Jahre alte Fichte. "Der Riese fällt, zuerst mit einem Flüstern, dann mit einem verspäteten Schrei. Ein Baum stirbt. Ein Klavier ist geboren." Die Pianistin dazu wiederum wird auf einer Autobahn im US-Bundesstaat Montana geboren. Perri Knize, renommierte Journalistin für Umweltpolitik, ist die Tochter eines Berufsmusikers. Doch Klavierunterricht war für die Familie zu teuer, sie lernte Flöte und gab die Musik als Teenager auf.

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Nun, mit 42 Jahren, hört sie eines Tages im Autoradio Rubinstein Chopin spielen, und weiß: "Das ist alles, was ich mit meinem Leben anfangen möchte." "Der verlorene Klang" ist die Geschichte dieser "Grand Obsession" (so der Originaltitel). Knize erzählt, wie sie sich auf die Suche nach einem Klavier macht, zu lernen, zu üben beginnt, und wie sie unermüdlich und lange vergeblich versucht, den "richtigen", "ihren" Klang zu erzeugen. Ihr Klavier nennt sie Marlene, nach Marlene Dietrich. "Chopin glitzert, Schumann singt. Doch Brahms bringt das Beste an ihm zum Vorschein [...]. Ist es Marlene? Beinahe, aber besser als die ursprüngliche Marlene." Perri Knize schafft es, diese Geschichte einer musikalischen und existenziellen Suche so zu erzählen, dass wohl auch viele Leser, die keine Klaviernarren sind, das Buch als solche beenden werden. "Was ist so faszinierend an Klavieren?", fragt eine Userin im weltweit größten Online-Klavierforum "Piano World". Und beantwortet die Frage gleich selbst: "Es sind die Leute, die sie lieben."

("Kultur Spezial" am Freitag, 04.10.2013)

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