Die ewig gleichen Rituale der Ermittler

 Clarissa Stadler
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Warum müssen die Polizisten in Krimis immer nach denselben Schemata arbeiten, immer die gleichen lachhaften Dialoge führen? Weil wir es so wollen – dass irgendwo da draußen jemand mit mörderischer Routine das Böse bekämpft.

Ein verregneter Morgen in Mitteldeutschland. Ein brackiges Baugebiet vor den Toren der Stadt. Und ein Spusi-Team, das in weißen Papieranzügen durch den Schlamm watet. Der zuständige Ermittler hat schlecht geschlafen, ist verkatert, mies gelaunt, auf Drogen, hat eine bipolare Störung, ein Verhältnis mit der Pathologin, eine Tochter in der Pubertät und eine Exfrau, die Zoff macht (hin und wieder ist sie auch tot).

Er hält einen Pappbecher in der Hand, der Kaffee ist schal, die Witze abgestanden. Auf die Frage „Können Sie schon was sagen?“ kommt die schlecht gelaunte Antwort: „Sie hat hier mindestens fünf Stunden so gelegen, aber was Genaueres kann ich Ihnen erst sagen, wenn wir die Laborbefunde haben.“ An dieser Stelle tauschen die Kollegen einen genervten Blick, der natürlich auch uns Zuschauern gilt: Kann die Spurensicherung nicht ein Mal was anderes, was Originelleres sagen? Nein, natürlich nicht! Wir wollen das so! Wir wollen in dieser irren Welt die eine Gewissheit haben: Dass irgendwo dort draußen Profis unterwegs sind, die dem kriminellen Sumpf mit mörderischer Routine begegnen und für uns das Böse bekämpfen.

Das immer wiederkehrende Schema, die Ermittlungsrituale, sind so stereotyp, die Versatzstücke der Dialoge so lachhaft, dass wir sie eigentlich nicht ernst nehmen können. Trotzdem zieht es uns Sonntagabend (falls man ein „Tatort“-Typ ist) oder anderntags magisch zum Fernsehapparat, trotzdem ziehen wir uns ein, zwei, drei Staffeln x-beliebiger Krimiserien rein. Ohne Leichen scheint Fernsehen keinen Spaß zu machen. Ohne Verbrechen, Gewalt und Suspense bleibt Fiction irgendwie schal. (Zwar soll es noch Menschen geben, die sich stundenlang Dokus über die rätselhaften Pyramiden oder eine seltene Spezies der Borkenkäfer im Kaukasus reinziehen, aber sogar bei Fauna und Flora geht es nicht ohne History und Mystery. Auch dem Banalen wohnt ein Mysterium inne, man muss es nur zutage fördern).

Unser liebstes Mysterium ist das Verbrechen, unsere größte Erlösung dessen Aufklärung.


Das forensische Prinzip. Neu ist ja nicht der Mord, der wurde nicht weniger blutrünstig schon im griechischen Drama abgehandelt. Neu ist die Kriminologie, die Spurensuche, das Fährtenlesen, die Indizienkette, das forensische Prinzip. Neu ist die Sicherheit, die sich nach dem Aha-Effekt einstellt, mit der Gewissheit, dass eine Ordnung wiederhergestellt ist. Wir werden jeden Tag mit so vielen widersprüchlichen Informationen, Verschwörungstheorien und Irreführungen konfrontiert (es genügt ja schon, zwei verschiedene Tageszeitungen zu lesen, um zwei verschiedene Realitäten zu haben), dass uns die Realität als ein undurchschaubares Splitterwerk erscheint. Die Welt ist rätselhaft. Jemand soll bitte das Rätsel lösen. Für diesen Job gibt es gut ausgebildetes Personal. Die Kommissare.

Inzwischen dreht sich jeder vierte Roman um Mord und Totschlag und auch vor dem Fernseher gibt es kein Entrinnen. 37 Prozent der Zeit, in der wir uns erfundene Geschichten anschauen, entfallen auf Krimis, hat der „Spiegel“ ausgerechnet. Das heißt, wir stehen mehr als ein Drittel unserer Fernsehzeit tief im Kriminal.


Subgenres. Der Krimi ist ein dermaßen erfolgreiches Produkt, weil er ein fantastisches Vehikel für so ziemlich alles ist, was sich in der Gesellschaft verändert. Kein anderes Format lässt sich so gut befrachten und kommt in so vielen unterschiedlichen Subgenres daher. Von abgebrühten Großstadt-Cops bis zum rührigen Pfarrer Braun ist nahezu jedes menschliche Naturell vertreten. Ermittelt wird in jeder Ecke der Welt. Vorbei die Zeiten, als Gangster nur Metropolen bevölkerten. Landlust! Die Provinz kann auch anders! Jede Kellergasse ein potenzieller Tatort, gemordet wird in der Eifel wie im Alpental.. . Je unschuldiger das Milieu, desto größer die Fallhöhe für die Verderbnis. Pfarrer, Nonnen, Hausfrauen, eine neue Armee von ErmittlerInnen rückt aus, um Halunken aller Art zu enttarnen.

Daher sind Krimis mittlerweile zu so etwas wie mit Suspense aufgeladenen Reiseführern geworden. Sie wollen Marseille bereisen? Lesen Sie Jean Claude Izzo! In seiner Marseille-Trilogie steht mehr über die Stadt als im Michelin. Sie wollen mehr über die Küche im Périgord erfahren? Kaufen Sie sich einen Krimi von Martin Walker, der kommt schon verdammt nahe an ein Kochbuch heran...


Sonderfall „Schwedenkrimi“. Unter skandinavischen Verlegern kursiert der Witz, man brauche nur einen neuen Autor mit einem å oder ø im Namen anzukündigen, um sechsstellige Vorbestellungen aus dem Ausland zu erhalten. Tatsächlich haben nordische Krimiautoren wie Henning Mankell, Stieg Larsson, Håkan Nesser, Jo Nesbø, Liza Marklund, Arne Dahl und andere schon mehr als eine halbe Milliarde Bücher verkauft. Das Besondere an der „Nordic Noir“-Welle – Henning Mankell begründete genau genommen schon die zweite, die erste hatten Sjöwall/Wahlöö ausgelöst – ist ihr starker politischer und gesellschaftlicher Bezug. So recherchierte der Journalist und Bestsellerautor Stieg Larsson privat zum Mord an Ministerpräsident Olof Palme, lange bevor er Rechtsextremismus in Schweden zum Thema seiner „Millennium-Trilogie“ machte.

Skandinavische Krimis sind besonders brutal, die Sexualmorde besonders pervers, die Sprache besonders karg an Adjektiven. Industrielle sind Mörder, Politiker sind korrupt, Polizeichefs Idioten. Und die Demokratie geht vor die Hunde. Fast wie im richtigen Leben. Das Bemerkenswerteste aber sind die Scandi-Kommissare.


Kaputte Typen. In der neuen Staffel der TV-Kultserie „Die Brücke“ sind eine schwedische Ermittlerin und ihr dänischer Kollege Ökoterroristen auf der Spur. Im Vorfeld eines EU-Klimagipfels kommt es zu hässlichen Anschlägen. Menschen werden vergiftet, mit Pesterregern infiziert, rätselhafte Videobotschaften werden ins Internet gestellt. Sprengstoff ist in großer Menge im Umlauf – das ganze Programm moderner Bedrohungsszenarien. Der Brutalität der Verbrecher steht die unterkühlte Verstörtheit der schwedischen Ermittlerin Saga Norén gegenüber.

Sozialkompetenz gleich null (hat sie das Asperger-Syndrom? Ist sie Autistin? So genau weiß man das nicht). So angeknackst kommen viele ihrer nordischen Polizeikollegen daher, brüchige Identität, kaputte Marotten. Mankells Kommissar Wallander erkrankt am Ende an Demenz, Stieg Larssons Heldin ist eine beziehungsunfähige Computer-Hackerin. Diese kaputten Typen machen sich für uns auf den Weg, um eine unübersichtlich gewordene Welt „dort draußen“ zu erforschen. In ihrer anarchischen Exzentrizität sind sie Erlöserfiguren für eine undurchschaubare, überregulierte Welt.


Forensik. Für die Forensiker ist die Welt ein großes Labor, die Naturwissenschaften sind ihr Arbeits-Tool. Seit dem Jahr 2000 ist die US-amerikanische Serie CSI in 14 Staffeln ausgestrahlt worden. Die Spezialisten im Labor könnten uns glauben machen, Forensiker seien etwas Neues. Tatsächlich aber gilt Sherlock Holmes als erster forensischer Privatdetektiv. Er führte im 19. Jahrhundert die magische Verwandlung der Welt in ein Reich der Zeichen und Indizien exemplarisch vor. So beschreibt der französische Soziologe Luc Boltanski in seinem Buch „Rätsel und Komplotte. Kriminalliteratur, Paranoia, moderne Gesellschaft“ den Detektiv als Garanten der Ordnung und Kriminalgeschichten als den Versuch, die Gesellschaft wieder zu kitten.

Wenig erstaunlich also, dass Sherlock Holmes für das Kino und als Fernsehserie neu verfilmt wurde und als atemloser, leicht soziopathischer Hightech-Ermittler durch das London des 21. Jahrhunderts jagt.

zur person

Clarissa Stadler
ist Moderatorin der ORF-Sendung „Kulturmontag“ und präsentiert die ORF-„matinee“ am Sonntag. Von 2009 bis 2012 moderierte sie den Ingeborg-Bachmann-Preis für 3sat.

Autorin
Im Jahr 2005 gab sie ihr schriftstellerisches Debüt mit dem Roman „N. Eine kleine Utopie“.
ORF

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.03.2014)

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