Márquez: Magischer Realismus aus Journalismus

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Gabriel García Márquez (1927–2014) zierte mit hoher Fabulierlust die lateinamerikanische Literatur. Er erzählte von Wundern und Grauen auf diesem reichen, geschundenen Kontinent.

Ein „granitharter Greis“ schleppt sich auf gewaltigen Elefantenfüßen, mit pfeifendem Hodenbruch durch die Säle seines zerfallenden Palastes, es ist Zacarias, der Urtyp aller lateinamerikanischen Diktatoren – und „Der Herbst des Patriarchen“, Despoten, Vergewaltigers, Kinderschänders, droht... Ein Papagei, der alle Sprachen spricht, aber nicht, wenn die Gesellschaft erschienen ist, ihm zu lauschen, kostet Juvenal Urbino das Leben: Der drogensüchtige Arzt versucht den Vogel, der beim Flügelstutzen auf einen Baum entwischt ist, einzufangen. Dabei stürzt der alte Mann ab. Die Witwe trauert, aber schon steht ihre große Leidenschaft von einst leibhaftig vor der Tür – und die „Liebe in den Zeiten der Cholera“ (ist nicht alles Leben so etwas wie Cholera, eine tödliche Krankheit?) verlangt ihr Recht...

Gabriel García Márquez ist tot. Der kolumbianische Nobelpreisträger wurde 87 Jahre alt. Aus seinen Büchern strömt das magische Feuer der Religion und früher, roher Kulte, aber auch die Wut über korrupte Politik, die einen wundervollen paradiesischen und reichen Kontinent zerstört: durch Kolonialismus, Ausbeutung durch fremde und lokale Mächtige, die sich aufeinander verlassen können, von Generation zu Generation. Hier waltet die auch sonst in der Welt geläufige unheilige Allianz von Militär, Waffen und Kirche, Glauben. Fluchtpunkte, Trost bietet die üppige karibische Tropenlandschaft, aus der der Schriftsteller stammte – mit viel Zeit für Muße, viel Märchen- und Mythenstoff.

Lieber finden als erfinden

„Lyrisch-barock“ wird Márquez' Stil gern genannt. Er trug den Vornamen eines Erzengels, war aber, wie viele lateinamerikanische Intellektuelle, ein Linker, mit Fidel Castro befreundet, schrieb ein Buch über ihn – und war oft auf Kuba zu Gast. Der peruanische Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa nannte Marquez einen Höfling Castros.

Ein wichtiges Motiv in Márquez' Romanen war die Einsamkeit – und so ist auch sein berühmtestes Buch benannt: „Hundert Jahre Einsamkeit“, das ihm den Nobelpreis bescherte: Die biblische Geschichte über eine Familie und ein Dorf führt von der Genesis zur Apokalypse. Macondo heißt der Ort, das Vorbild war Márquez' Geburtsstadt Aracataca, wo er als Sohn eines Apothekers geboren wurde. Das Jurastudium langweilte den Absolventen eines Jesuitenkollegs: „Ich wusste nicht, ob ich vom Schreiben leben kann, aber ich wusste, dass ich dafür sterben würde“, sagte er – und: „Ich habe nie mit einer anderen Waffe zu tun gehabt als mit meiner Schreibmaschine.“ Márquez schöpfte aus seiner Familiengeschichte. Er erkundete aber auch literarische Götter wie Hemingway, Joyce, Virginia Woolf, Faulkner.

1954 wurde er Journalist. Journalismus und Literatur, fand er, seien einander nahe. Vieles, was in Büchern notiert sei, habe sich tatsächlich ereignet, die Kunst liege eher im Finden als im Erfinden und in der Ausschmückung dessen, was man gefunden habe. Inspiration lieferten ihm auch Zeichnungen des 19. Jahrhunderts. Manche von Márquez' Figuren allerdings wirken so hypertroph, aufgeblasen, karikaturistisch wie die Schöpfungen seines 1932 geborenen Landsmannes, des Malers Fernando Botero. Am meisten habe er von schlechter Literatur gelernt, pflegte Márquez zu sagen. Seine Arbeitsweise sei unsystematisch. Manchmal suche er verzweifelt nach einem Schriftstück, wenn er es gefunden habe, werfe er es wieder beiseite, und wenn er es wieder ansehe, sei es für ihn unwichtig geworden. Solche Schilderungen dürften Journalisten heiter stimmen. Márquez' Bücher waren Bestseller, ihre Titel wurden zu geflügelten Worten, gern genutzt von Leitartiklern und Feuilletonisten: „Chronik eines angekündigten Todes“, „Der General in seinem Labyrinth“, „Die Liebe und andere Dämonen“.

Auf Fotos hat Márquez nie jung ausgesehen. Er wirkte immer wie der nachdenkliche oder zornige Intellektuelle, aber er hatte etwas rundlich Väterliches in seiner Erscheinung, und ein Übervater ist er auch geworden. Bei seinem letzten öffentlichen Auftritt zu seinem Geburtstag am 6. März in Mexiko-Stadt, wo er seit 30 Jahren lebte, sah man ihn umringt von Journalisten und jungen Leuten, die ihm ein Ständchen darbrachten. Und er wirkte durchaus frisch. Obwohl er die letzten 15 Jahre mit schweren Krankheiten Bekanntschaft machte: Krebs, Demenz und zuletzt mit einer Lungenentzündung.

„Leben, um zu schreiben“

In seinen Büchern hat Márquez Krankheit des Öfteren auf eine traumhaft überhöhte Weise geschildert. Die Liebes- und die Todeserfahrung liegen in seinen Büchern nahe beieinander, beide verlangen den ganzen Menschen und verzehren ihn. Der Tod beschert den Romanfiguren eine ähnliche Verwunschenheit wie die Leidenschaft. Und das Ende kündigt sich deutlich an. Der Leser spürt es. Die Figur weiß noch nichts davon.

Die Liebe ist ideal, idealisiert, sie korrespondiert nicht mit der Wirklichkeit. In „Erinnerung an meine traurigen Huren“, verbringt ein 90-jähriger Mann eine Nacht im Bordell mit einem unberührten jungen Mädchen: „Das war endlich das wirkliche Leben, mein Herz war gerettet und dazu verdammt, an wahrer Liebe zu sterben, in glücklicher Agonie, an irgendeinem Tag nach meinem hundertsten Geburtstag“, heißt es am Ende. Diese Bücher erschaffen den Film im Kopf mit einer prallen, ja bedrängenden Sprache, die den Leser überschüttet. Manchmal muss man die Werke beiseitelegen, rasten. Sie sind gar zu suggestiv. „Leben, um zu schreiben“, heißt der erste Band von Márquez' Erinnerungen, die unvollendet bleiben...

ZUR PERSON

Gabriel García Márquez, der Enkel eines Veteranen des Bürgerkriegs der Tausend Tage 1899–1902, in dem sich Panama von Kolumbien lösen wollte, wuchs in einem Frauenhaushalt auf, hier die magische Welt der Großmutter, dort die realistische des Großvaters. 1967 hatte García Márquez seinen Durchbruch als Schriftsteller mit „Hundert Jahre Einsamkeit“, das Buch fand 30 Millionen Leser. 1982 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. Zuletzt erschienen Erzählungen (2006).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.04.2014)

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