Rau und bitter und schön

Irgendwer liebt sich durch diese oder jene beziehungslose Beziehung: So ist der Stand der Dinge in Judith Hermanns neuem Erzählungsband "Nichts als Gespenster". Eine Prosa der "schönen Möglichkeiten".

Nichts wäre wohl einfacher, nichts billiger, als diese Erzählungen von Judith Hermann zu verreißen, sie mit Hohn und Spott zu übergießen. Ungefähr so: Nach dem spektakulären Erfolg mit ihrem ersten Erzählungsband, "Sommerhaus, später" (1998), versucht das einstige kometenhaft am Horizont der deutschen Gegenwartsliteratur aufgestiegene sogenannte Fräuleinwunder, die madonnengesichtige, präraffaelitisch schöne, inzwischen Mutter gewordene Berlinerin Judith Hermann, mit ihrem neuesten Band voll unbefleckter Prosa ihren verfrühten Triumph irgendwie zu überbieten. Zwei Erzählungen weniger als im "Sommerhaus"-Band, aber dafür länger, langatmiger auch, ausgereifter vielleicht, aber nicht minder abgestanden.

Auf diese Art "Argumentation" haben sich weite Teile der Literaturkritik bereits verständigt, was die Beurteilung der "neuen Hermann" angeht. Wir sollten jedoch etwas genauer vorgehen, auch was die Enttäuschung darüber unter manchen Kritikern angeht, dass Judith Hermann keinen "eigentlichen" Roman vorgelegt hat, sondern eben wieder "nur" Erzählungen. Das ist
so absurd, als wenn man Katherine Mansfield vorgeworfen hätte, es nicht zu einem "Ulysses" gebracht zu haben. Übrigens gehört Mansfield neben Marie Luise Kasch- nitz und Alice Munro zu den bevorzugten "Vorbildern" dieser Schriftstellerin, wie sie in einem ihrer seltenen Interviews erst
vor kurzer Zeit bekannte. Ich kann sie mir auch durchaus als Leserin von Anton Tschechow, Theodor Storm und Herman Bang vorstellen.

Unter den Gegenwartsautoren glaube ich eine Wahlverwandte von Judith Hermann in der im letzten Oktober verstorbenen Undine Gruenter erkennen zu können. Übrigens: Haben wir da eigentlich wahrgenommen, wen wir da - gerade einmal 50-jährig - verloren haben? Eine der feinsinnigsten Prosaautorinnen deutscher Sprache. Der Zufall wollte es, dass zeitgleich mit Hermanns neuem Erzählungsband auch Gruenters Erzählungen "Sommergäste in Trouville" posthum erschienen sind, die nahtlos an ihre bedeutenden, 1989 erschienenen Paris-Erzählungen "Nachtblind" anschließen, von ihren letzten großen Romanen "Vertreibung aus dem Labyrinth", 1992, und "Das Versteck des Minotaurus" aus dem Jahr 2001 (alle Hanser Verlag, München) zu schweigen. Und so konnte ich in den letzten Tagen nicht umhin, abwechselnd Hermann und Gruenter zu lesen, Zeugnisse zweier Melancholikerinnen, wahlverwandt und grundverschieden: Hermann ist melancholische Analytikerin, Gruenter wob ihre Geschichten aus Schatten und Abschieden.

Nein, Hermanns Erzählungen "Nichts als Gespenster" haben nichts mit Wunder-erscheinungen am deutschen Prosahimmel zu tun. Auch "Sommerhaus, später" ließ sich, was die Wirkung der Erzählungen angeht, recht rational erklären. Denn Hermann bedient ein Zeitgefühl, das Orientierungslosigkeit im Emotionalen im Grunde bejaht, intellektueller Angestrengtheit aus dem Wege geht, das auf irgendwelche "Möglichkeiten" hofft, schöne Möglichkeiten ("schön" ist Hermanns bevorzugtes Adjektiv), ohne dass deutlich werden müsste, wozu diese Möglichkeiten gut sein sollen. Verbindlich ist in diesen Erzählungen nur das Unverbindliche. Der Autorin dies vorzuwerfen wäre verfehlt.

"Auf der Gare du Nord strömten die Menschen . . . auf der Anzeigetafel fielen die Buchstaben durcheinander, blitzten Städte auf und Fernen und verschwanden wieder, ich hatte Sehnsucht oder Fieber, es war nichts mehr zu unterscheiden." So ist der Stand der meisten Dinge in diesen Erzählungen. Irgendwer sucht nach der großen Liebe, liebt sich durch diese oder jene beziehungslose Beziehung scheinbar an sie, diese große Liebe, heran. Aber es gibt sie nicht, diese alles verzehrende Sehnsucht oder genauer: den Menschen, der diese Art Sehnsucht wachriefe in diesen diversen erzählenden Ichs, die es zwar zu einigen einschlägigen Erfahrungen zwischen dem Bettzeug bringen, aber im Grunde nicht Fisch, nicht Fleisch sind oder sein können.

Geraucht wird immer wieder. Schon in "Sommerhaus, später" fiel der Zigarettenrauch auf, der so gar nicht zu passen scheint zu dieser Autorin, auch wenn diese beteuert, dass das Rauchen der "autobiografische

Anteil" in diesen Erzählungen sei. "Die Zigarette schmeckte rau und bitter und schön". Nun denn. Zu einer eigentlichen Vernebelung der Verhältnisse führt dieses Rauchen freilich nicht; dafür sorgen eher die nicht immer genauen Worte, die (bewussten) Unschärfen im Ausdruck, das häufig sogenannte "Abgefahrene", wobei man als Leser natürlich nie weiß, wohin die "Fahrt" geht. ("Abgefahren" rangiert nach "schön" ganz oben auf der Liste der Lieblingsadjektive in diesen Texten und belegt Zeitjargonnähe.)

Berlin ist in diesen Erzählungen nicht länger Hauptschauplatz, auch wenn manche von der altneudeutschen Kapitale ausgehen oder auf sie zurück verweisen. Was die Schauplätze angeht, so überrascht eine Island-Geschichte. Und stellenweise glaubt man sich in die isländische Welt des Halld³r Laxness verirrt zu haben, in eine Welt wie etwa in seiner stillen, intensiven Erzählung "Das gute Fräulein": "Sie hat zum ersten Mal selbst das Gefühl, in einem Land zu leben, in dem qualmende Vulkane und fauchendes Wasser alle Fragen zu einer Antwort führen, einer Antwort, die man nicht entziffern kann und die trotzdem genügt."

Dem Leser nicht immer. Die Welt der Moose und Flechten, des Schnees, der Geysire und des Schwefelgeruchs hat Hermann zwar andeutungsweise eingefangen, aber es bleibt doch vieles klischeehaft dargestellt. (Hat ihr denn niemand die Episode erzählt, dass eine beträchtliche Anzahl von Bewohnern Reykjav­ks vor noch gar nicht langer Zeit in einer Art Protestprozession gen Hafen schritten mit einer großen Goethe-Büste vorweg, die man dann feierlich ins Meer warf, um damit gegen die Schließung des Goethe-Instituts zu protestieren. Brünhilds Rache am Dichterfürsten, das wäre doch ein Titel und Thema!) Stattdessen erhalten wir eine etwas dröge Viererbeziehung, sprich, wie gesehen, Nicht-Beziehung, bei der man nicht so genau weiß, warum, weshalb und wie. Ist eben Absicht der Erzählerin.

Ein wirklicher Rückfall in "Fräuleinwunderprosa" ereignet sich in der Erzählung "Aqua Alta", frustrierende Reiseerlebnisse in Begleitung der Eltern mit Schauplatz
Venedig. Darauf folgt dann aber der mit Abstand beste Text, sonderbarerweise aber mit dem schief-reißerischen (also falschen) Titel "Zuhälter". Der Text hat zunächst etwas einer Erinnerung an das Künstlerno-vellenmilieu. Johannes "hatte Malerei studiert und konnte nach dem Studium einigermaßen von den Ausstellungen und dem Verkauf seiner Bilder leben, ohne dass er in der Kunstszene größeres Aufsehen erregt hätte."

Diese ironische Einschränkung, wie nebenbei eingeführt, erinnert wie von ungefähr an einstiges Erzählen. Und dieser Künstler des leicht gehobenen Durchschnitts, den wir weniger an der Staffelei
sehen als beim Auswaschen seiner Pinsel,
er bittet von Zeit zu Zeit die Erzählerin über dieses oder jenes seiner Bilder einen Katalogtext zu verfassen. "Ich kannte Johannes schon lange, was auch immer das heißen mag, ich kannte ihn seit zehn oder zwölf Jahren. Ich war ganz am Anfang sehr in ihn verliebt gewesen, und als ich damit aufhörte, verliebte er sich in mich, und wir zerrten eine Weile lang aneinander herum, dann gaben wir es auf."

Auf ein halbes Jahr nun lebt Johannes in Karlovy Vary, das er sich und anderen, politisch korrekt, wie man nun einmal ist, verbietet Karlsbad zu nennen. Er bewohnt eine großzügige Wohnung, die ihm eine Chi-nesin überlassen hat, deren Mutter vor kurzem in einem dieser geräumigen Zimmer verstorben ist. Die tote Chinesin ist all-gegenwärtig; man liegt in ihrem Bett, stößt überall auf ihre Dinge, einschließlich der Schminktöpfchen im Bad und ihrer Kleider im Schrank. Der Erzählerin wird es nun unheimlich, aber in Maßen. "Ich lag im Bett (der toten Chinesin), weil ich nicht wusste, was ich sonst hätte tun sollen, mit ihm, ohne ihn."

Atmosphärisch "geschieht" viel; Stimmungen überlagern einander, übertragen sich auf den anderen, schwinden ins Nichts. "Ich legte mich mit dem Rücken an seinen Bauch, und er legte seinen Arm um mich herum und hielt meine Hand, solange, bis ich endlich nicht mehr an ihn denken musste." Woran sie stattdessen denkt, sind die obszönen Briefe einer einstigen Konkurrentin um die Gunst von Johannes: "Sie erinnerte Johannes an bestimmte Erregungen, beschrieb künftige Nächte, verlor sich in ausschweifenden Phantasien. Ich hätte nicht gedacht, dass Johannes überhaupt eine Sexualität hatte, jedenfalls nicht eine solche - war das seine Sexualität oder nur Miriams, ihre Empfehlung? Meine Sexualität war es nicht, und ein wisperndes Etwas in mir bedauerte das." Man glaubt es dieser Erzählerin, von der man nach ihrem kleinen Abenteuer in Karlovy Vary auch künftig kein Abgleiten in erotische Exaltationen erwartet, aber auch keine Karlsbader Elegie. Man kommt und geht in diesen Erzählungen, letztlich bleibt das alles folgenlos; und doch wollen sie nachwirken.

Beim Lesen der Erzählung "Wohin des Wegs" dachte ich gelegentlich an die Prosa eines Botho Strauß. Aber bei ihm weiß man immer gleich, dass er kürzlich wieder einen Frühromantiker gelesen hat. Der Fall der Prosa Judith Hermanns liegt jedoch anders: Sie charakterisiert kaum, schraffiert allenfalls das Umfeld, von dem sich ihre Personen dann von selbst ein paar Seiten lang abheben müssen.

Am Ende befinden wir uns wieder im Norden. In Norwegen. "Die Liebe zu Ari Oskarsson" sagt der Titel. Wieder Menschen, die im norwegischen Nirgendwo aneinander vorbei lieben. Der Anlass: Ein Nordlicht-Festival in Troms¸, das mangels Beteiligung ausfallen muss. Seltsam: Wieder diese Klischees. Wie in Karlsbad alle Polen und Russen wie besessen tranken und tanzten, so befindet die Erzählerin hier: "Troms¸ war trostlos. Ich kann mich nicht erinnern, jemals eine Stadt im Norden gesehen zu haben, die nicht trostlos gewesen wäre, außer vielleicht Stockholm. Aber Troms¸ war außergewöhnlich trostlos."

Und weiter heißt es bei Hermann: "In all diesen Städten scheint es so, als wäre immer zuerst ein Hafen da gewesen, dann ein paar Fischerhäuser drumherum, dann eine kleine Fischfabrik und mehr Häuser und eine größere Fabrik, eine Einfallstraße, eine Ausfahrtsstraße, ein Einkaufszentrum, ein Downtown, eine Vorstadt, die sich planlos zersiedelte und dann zu verenden schien." Ja, das ist Klischee, Übertreibung und hat doch etwas. Es gibt ihn nämlich, den Reiz der Trostlosigkeit, den Reiz des Aneinander-Vorbei-Empfindens, den Reiz der Leere.

Judith Hermann schreibt eine abgerundete und gleichzeitig offene Prosa, von der eine Unverbindlichkeit ausgeht, die überraschend angenehm sein kann. Sie fordert nicht, sondern fördert Sensibilisierung. So könnte es weitergehen mit dieser Prosa. Nur würde man dann eines Tages sagen: So schrieb sie hin.

Rufen wir dieser Autorin wohlwollend nach diesem ihrem zweiten Band zu: Mehr "Polarität und Steigerung" ist erlaubt. Aber nicht mehr Unterforderung des Lesers.

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