Eine osmanische Geschichte

Sabahattin Ali hat seinen Roman "Yusuf" in der Provinz angesiedelt. Die Erzählung aus dem Jahr 1937 liegt nun auf Deutsch vor.

Als der Landrat Salâhattin Bey den kleinen Yusuf in jenem Zimmer findet, in dem seine von Banditen ermordeten Eltern liegen, fragt er den Buben bestürzt, was er denn hier mache. „Was schon“, sagt Yusuf und zeigt auf seine blutüberströmten Eltern, „ich wache bei denen da!“ Vom Gleichmut dieses Waisenkindes ist Salâhattin Bey merkwürdig berührt, und diese für ihn so typische zwischenmenschliche Kühle wird Yusuf nie ablegen. Dann nicht, als sich Salâhattin Bey seiner annimmt, dann nicht, als Yusuf von Salâhattins Frau Şahinde als Eindringling behandelt wird, und auch dann nicht, als Yusuf im Laufe seiner Jugend Freunde sowie Feinde gewinnt und verliert.

Nur Yusufs Stiefschwester Muazzez vermag seinen Frost zu erweichen. Weil Salâhattin und Şahinde in ihren eigenen Welten leben, bleiben die Kinder sich selbst überlassen, sie sind sich Geschwister und Eltern zugleich, und in der fließenden Zeit des Heranwachsens bemerken sie, sie sind sich sogar mehr. Aber wie kann diese Verbindung überhaupt möglich sein? Muazzez ist der Brennpunkt in Sabahattin Alis Erzählung, die 1937 erschienen ist und nun in deutscher Fassung vorliegt – auch wenn der Autor seinen Roman nach dem Sonderling Yusuf benannt hat. Die schöne Muazzez wird von mehreren Männern in der Stadt umworben, und genau das lässt die Situation der beiden so ausweglos erscheinen.

Alis Roman spielt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es sind die letzten Lebensjahre des Osmanischen Reiches, und es ist eine Welt, in der die Männer Fez und Husarenmützen, und die Frauen bestickte Gewänder aus schwerem Stoff tragen. In dieser Welt sind die Bräute noch kindlich und Morde bleiben ungesühnt. Es ist aber auch die Welt, in der die Kinder ihre eigenen Ausflüge planen, auf den Hügeln ihr Fleisch grillen und Flöten schnitzen und am Abend im Rudel nach Hause zurückkehren, die Haare voll mit Gras und Geäst. In Alis Erzählung tauchen riesige Feigenbäume auf, persische Schönheiten, griechische Knaben, armenische Dienstmädchen, Großmütter mit Goldmünzen, Krämer, Fabrikantensöhne, Olivengärten und Weinberge. Es ist – im weitesten Sinne – das osmanische Anatolien, und Ali zeichnet dieses Land nicht von oben herab, sondern von der Mitte heraus.


Fortsetzungsroman. „Yusuf“ erschien in den 1930er-Jahren ursprünglich als Fortsetzungsroman in einer Zeitung. Die gebündelte Version sollte Alis bekanntestes Werk werden, zumal er einer der ersten Autoren war, die eine große Erzählung in der osmanischen ländlichen Provinz angesiedelt haben. Sabahattin Alis Sprache ist unprätentiös, ihre Schlichtheit ist aber weder trivial, noch abgegriffen. Der Roman ist ständig im Fluss, ruhig, aber nicht kraftlos.

Als Widersacher Yusufs – die Familie lebt in Edremit an der Ägäisküste – tritt jedenfalls der Lebemann Şakir auf, der Muazzez zur Frau nehmen möchte. Mit einem billigen Trick legen er und sein Vater den Landrat Salâhattin Bey herein, der sich anschließend derart bei Şakir verschuldet, dass ihm nichts anderes übrig bleibt, als seine Tochter herzugeben. Yusuf und sein Freund Ali können sie von Şakir freikaufen, allerdings ist Muazzez dann Ali versprochen. Als Şakir bei einer Hochzeitsfeier Ali eine Kugel in die Brust jagt, finden sich Yusuf und Muazzez in einem unbegreiflichen Chaos wieder.

Das Reizvolle an Sabahattin Alis Erzählung ist: Es ist keine Gefühlsduselei, sondern ein ernst gemeintes Grübeln über Geschichte und Tradition der eigenen Heimat.

Sabahattin Ali wurde 1902 im heutigen Bulgarien geboren. Er verbrachte mehrere Jahre als Student in Deutschland und unterrichtete anschließend Deutsch in der neu gegründeten türkischen Republik. Mit der Veröffentlichung von satirischen Schriften legte sich Ali mit der Zensurbehörde an, 1948 wurde er schließlich an der bulgarischen Grenze ermordet. Die Todesumstände wurden nie restlos aufgeklärt.

Rätselhaft bleibt dem Leser, trotz aller Sympathie, auch die Figur des Yusuf. Er ist der Eigenbrötler in der Stadt, derjenige, der sich den Städtern nie annähren kann. „Er sprach nicht die gleiche Sprache wie die Menschen hier“, beschreibt Ali seinen Protagonisten, „und er war überzeugt, dass niemand ihn verstehen würde.“ Ali hat ihn nicht mit der Fähigkeit zu einem überbordenden Gefühlsleben ausgestattet, aber auch keinen Eisklotz aus ihm gemacht. Yusuf ist ein schlauer, aber einsamer und schweigsamer Kämpfer. Figuren wie diese hat das lesende Volk des frisch zerbrochenen Osmanischen Reiches fast schon abgöttisch geliebt.

Neu Erschienen

Sabahattin Ali
„Yusuf“
übersetzt von
Ute Birgi
Dörlemann Verlag
368 Seiten
23,50 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.05.2014)

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