Die Ordnung der Bücher: Vom Stapel bis zum Shelfie

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Ein Stapel mit B¸chern im Schaufenster eines Buchhandels Lesen bildet McPBBO McPBBO(c) imago/McPHOTO (imago stock&people)
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Orden Sie Bücher nach Farben oder alphabetisch? Schmeißen Sie hin und wieder auch einen Band weg? Nicht nur die Art der Bücher, auch die Ordnung in unseren Regalen verrät eine Menge über uns – und darüber, wie wir die Leser wurden, die wir sind.

Was haben Tolstois „Anna Karenina“, Jonathan Franzens „Korrekturen“ und Homers „Odyssee“ gemeinsam? Sie gehören zu den beliebtesten Tsundoku-Büchern. Tsundoku ist eine japanische Wortneuschöpfung und bezeichnet die Gewohnheit, gekaufte Bücher ungelesen auf dem Boden oder dem Nachtkastl zu stapeln, wo sie uns in der Folge ein schlechtes Gewissen machen; so lange, bis wir uns einen Ruck geben und sie in den Weiten und Tiefen der Regale verschwinden lassen. Oder bis sie im Stapel so weit nach unten gewandert sind, dass wir sie vergessen.

Mal sehen: Ein Reiseführer für Korsika, der von mir nie zu Ende gelesene Bestseller Joachim Meyerhoffs, ganz unten Norfolks „Das Festmahl des John Saturnall“, ein Ziegel, der dem ganzen Stapel Halt gibt und auf den nächsten Urlaub wartet.

Buecherstapel - stack of books
Buecherstapel - stack of books(c) www.BilderBox.com (www.BilderBox.com)

Bedürfnis nach Struktur. Die Stapelung der Bücher ist jene Form der Aufbewahrung, die von uns die geringste Planung erfordert. Aber sie darf in ihrer Komplexität nicht unterschätzt werden (genauso wenig wie einst die Plastiksackerln des Marcel Prawy). Stapel stehen für Veränderung und Individualität, sie sind ständig in Bewegung und spiegeln verlässlich unsere Interessen wider: Jenes Buch, das wir zuletzt gelesen haben, landet on top, weil wir uns nicht die Mühe machen, es wieder an den ursprünglichen Platz zurückzuschlichten. Und man findet die Bücher meist, wo man sie wirklich braucht: Die Fachliteratur auf dem Schreibtisch, die Lyrik neben der Badewanne, die Belletristik auf dem Nachtkastl, die Krimis in der Nähe der Koffer und Trolleys. In fortgeschrittenem Ordnungszustand bilden die Bücher ganze Cluster zu Themen und Interessen, ein Pendant zur digitalen Begriffswolke.

Diese Aufbewahrungsform ist etwas für Freigeister, die mit ihren Büchern leben und denen es egal ist, dass sich außer ihnen keiner zurechtfindet. Wie denn auch: Wenn ein Stapler einen bestimmten Band sucht, wird er sich in Erinnerung rufen, bei welcher Gelegenheit und warum er ihn zuletzt in der Hand hatte. Das weiß nur er: Stapel sind radikal intuitiv.

(c) Die Presse (FABRY Clemens)

Das Gegenteil des Stapels ist die Bibliothek. Sie steht für unser Bedürfnis nach einer weitergehenden Ordnung, nach stets verfügbarem Wissen. Die meisten von uns können sich zumindest teilweise in jenen Sinologen einfühlen, der sich in Canettis „Die Blendung“ mit 25.000 Bänden umgibt, alle säuberlich geordnet an ihrem Platz. Die Zerstörung seiner Ordnung bedeutet für diesen Sinologen auch das Ende seiner Welt.

In den eigenen Wänden sehnen wir uns nach einer Struktur, die uns entspricht. Aber wie soll sie aussehen? Während es laut Nick Hornby nur drei Methoden gibt, CDs vernünftig zu ordnen – alphabetisch, chronologisch oder biografisch – sind die Möglichkeiten für Bücher schier endlos. Nach Themen? Sachgebieten? Nach Lebensabschnitten? Nach Gefühlen? (Ja, auch das ist möglich, da fände sich bei mir Schnitzler etwa in der Rubrik „Liebeskummer“ – niemand kann so ernüchternd über die Liebe schreiben wie er).

Suhrkamp Verlag
Suhrkamp Verlag(c) APA/dpa (Alexander Rüsche)

Blau links, Grün rechts. Eine ebenfalls ungewöhnliche Methode: Die Ordnung nach den Farben der Bücherrücken. Eine Kollegin schwört, nur so finde sie ihre Bücher verlässlich. Noch wichtiger ist ihr freilich die Ästhetik. Seit die Zeit der Privatbibliotheken mit ihren schweren, einheitlich gebundenen Werken vorbei ist, bringen Bücher nämlich Unruhe in den Raum: Sie sind unterschiedlich groß, unterschiedlich dick, die Beschriftung verläuft von links nach rechts („amerikanisch“) oder von unten nach oben („klassisch“) bzw. von oben nach unten; die Bücher sind gelb und grau und weiß und bunt, das stört Puristen. Inspiriert wurde die Farbsortierung möglicherweise von der Edition Suhrkamp, deren Bände aneinandergereiht einen Regenbogen ergeben.

Der Vorteil: Die Farbsortierung verblüfft Besucher und bietet sich so als unverfängliches Thema für ein erstes Gespräch an. Und sie eignet sich hervorragend für Shelfies, also die Fotos des eigenen Bücherregals, die nach den Selfies schick wurden, jenen Schnappschüssen, die Menschen gerne von sich selbst machen und ins Netz stellen. Bei den Shelfies sind Bücherregale, die nach Farben geordnet sind, überrepräsentiert.

Der Nachteil: Die Farbsortierung erfordert große Präzision, sonst wirkt das Ergebnis leicht schlampig. Wenn schon, denn schon – dann muss man auch auf die Farbnuancen achten.

Ähnlich wie beim Stapel findet sich auch hier nur der Besitzer zurecht.

Kunstband neben Reclam-Broschüre? Anders ist das, wenn man zu einem – zumindest in unserem Kulturkreis – allgemein verbreiteten Ordnungssystem wie dem Alphabet greift. Es spielt in vielen Regalen eine Rolle: Mehr oder weniger präzise bzw. zwanghaft (bis zu welcher Position des Buchstabens muss sortiert werden? Bezieht man die Vornamen mit ein? Muss Gabriele Wohmann vor Wolfgruber stehen und Joseph Roth vor Philipp Roth?). Mehr oder weniger strikt angewandt: In der radikalsten Form stünde der fette Expressionismus-Bildband von Serge Sabarsky unmittelbar neben der fuzeligen Reclam-Ausgabe der „Schmutzigen Hände“ von Jean-Paul Sartre. Das irritiert doch das Auge!

(c) imago stock&people (imago stock&people)

Aber auch sonst wird man diese radikale und rein alphabetische Anordnung selten finden, weil wir uns nämlich erstens nicht an alle Autoren erinnern (Wer hat diesen Korsika-Reiseführer geschrieben? Wer dieses Kochbuch?). Und weil wir außerdem keineswegs nach eigenem Gutdünken vorgehen können, schließlich wirkt auch in der Welt der Bücher die normative Kraft des Faktischen: Die Zahl freier Wände und ihre Höhe schaffen Tatsachen, aber auch das zur Verfügung stehende Budget.

Zweite Reihe. So hängt ein billiges Regal gerne in der Mitte durch, das bedeutet: schwere Bände an den Rand! Die Kombination aus kleiner Wohnung und einer großen Sammlung verlangt außerdem nach Bücherwänden mit flexiblen Böden – und führt zur Ordnung nach Größe, auch wenn das manchem banausenhaft vorkommen mag. Das Werk der wichtigsten Dichter und Denker verstreut? Die Taschenbuch-Ausgabe der „Wahlverwandtschaften“ in der Küche? Der Reclam-„Faust“ im Schlafzimmer? Goethes Lyrik einsam und allein im Wohnzimmer? Für manchen undenkbar. Zuweilen müssen außerdem aus Platzgründen gebundene Bücher liegend statt stehend untergebracht werden, was dem Nutzer freilich in einem Punkt entgegenkommt: Er kann die Buchrücken lesen, ohne den Kopf zu verdrehen.

Das alles wird noch komplizierter dadurch, dass so eine Bibliothek nicht statisch ist: Es verschwinden Bücher, meistens jene, die man am meisten ins Herz geschlossen hat und die man deshalb einem lieben Besucher zu vorgerückter Stunde aufgedrängt hat („Was? Das kennst du nicht? Das musst du lesen!“). Noch häufiger kommen neue dazu, geschenkte und gekaufte; Werke, die man beruflich braucht oder von denen man eine hübsche Rezension gelesen hat oder die man im Kiosk am Strand erworben hat, weil einem im Urlaub die Lektüre ausgegangen ist.

Wohin mit ihnen? Die meisten Büchersammler lassen für diese ja durchaus vorhersehbaren Zuwächse Platz im Regal, doch irgendwann ist auch der verbraucht. Eine Zeitlang kann man sich damit behelfen, dass man die Bücher zweireihig ordnet. Aber irgendwann muss man ausweichen, sprich: Man montiert ein neues Regal.

Aber was stellt man dort hinein? Das ist oft die Geburtsstunde einer neuen, untergeordneten Kategorie: Die deutschsprachigen Werke werden dann zum Beispiel noch einmal geteilt – die Schweizer Belletristik wandert ins neue Regal, die österreichische und deutsche bleibt zurück. So kommt es, dass bei mir die Taschenbücher alphabetisch geordnet sind, die gebundenen Bücher nach Ländern, die Reclam-Bücher nach Gattungen, die österreichische Avantgarde bzw. die experimentelle Literatur nach Verlagen, die wissenschaftliche Literatur nach Richtungen. . .

Andere Bücherbesitzer greifen in diesem Fall zu einer sehr umstrittenen Lösung: Sie schmeißen Bücher weg. Weniger radikal: Sie überlassen ihren Besitz anderen. Was man (sagt die Erfahrung) besser bleiben lässt, weil ein weggegebenes Buch sich rächt. Spätestens einen Monat später kommt ein Anlass, wo man eben dieses Buch dringend benötigen würde. Dieser Zeitraum ist übrigens unabhängig davon, wie lange das Buch vorher ungenutzt im Regal verstaubt ist.

Buchmesse Frankfurt
Buchmesse Frankfurt(c) APA/dpa (Frank Rumpenhorst)

Wenn kein Platz mehr ist: das E-Book. Dem kann man neuerdings entgehen: In Japan – wo die Wohnungen und Regale kleiner sind – werden immer häufiger gebundene Bücher digitalisiert, eigene Firmen bieten dafür ihre Dienste an. Wobei sich auch für E-Books die Frage nach der Ordnung stellt. Hier sind die Möglichkeiten reduzierter – zumindest auf den ersten Blick: Die Bibliothek nach Farbe oder Größe zu ordnen ergäbe auch gar keinen Sinn. Die größeren Anbieter wie Kindle und Apple bieten jedenfalls die Möglichkeit, eigene Unterkategorien anzulegen, doch schon am Unter-Unterverzeichnis scheitern die meisten Programme. Eine Alternative ist die Arbeit mit mehreren Anbietern (die Kindle-App auf dem Apple-Gerät etwa), wobei dies gut zu überlegen ist: Wechseln ist dann nicht mehr möglich. Was liegt, das pickt – das gilt auch für das E-Book. Was noch mehr abschreckt: Bücher können verschwinden, wenn man einen Account löscht. Man ist abhängig von der Energieversorgung. Und wer ein wenig älter ist, hat schon zu viele Speichermedien veralten sehen (erinnern Sie sich noch an die große, weiche Floppy Disk?). Die digitale Bibliothek ist außerdem auf absurde Weise jener aus Canettis „Blendung“ ähnlich: Keiner wird darin stöbern, keiner wird sich einen Band ausborgen. Keiner wird anerkennend nicken oder uns in ein Gespräch verwickeln.

Vor dem E-Regal bist du jedenfalls einsam.

Fakten

Tsundoku stammt aus dem Japanischen. Es ist ein Neologismus und bedeutet so viel wie: Bücher kaufen und sie ungelesen auf einen Stapel mit anderen ungelesenen Büchern legen.

Shelfies sind Fotografien des eigenen Bücherregals. Sie kamen kurz nach den Selfies in Mode, also den Schnappschüssen, die Menschen von sich selbst machen und ins Netz stellen. Bei den Shelfies sind übrigens Bücherregale, die nach Farben geordnet sind, überrepräsentiert.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.05.2014)

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