Werwölfe sind auch nur Menschen

Benjamin Percy
Benjamin Percy Jennifer May
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US-Autor Benjamin Percy hat einen fesselnden Werwolfroman geschrieben, der sich mit zentralen Fragen des Menschseins beschäftigt. Es ist ein düsteres Meisterwerk.

Wer Benjamin Percys Buch „Roter Mond“ liest, muss einen guten Magen haben. Denn wenn Lykaner – Percy verwendet auf über 600 Seiten kein einziges Mal das Wort Werwolf – wüten, sind das keine schönen Momente: „Ein Arm senst durch die Luft, und der Schrei des Mannes bricht abrupt ab. An seinem Hals öffnet sich ein zweiter Mund.“ Doch man sollte sich von Szenen wie diesen nicht abschrecken lassen, denn Percy setzt sie nur ein, wo sie notwendig sind. Das hat er 2011 sogar in einem Essay erklärt: Gewalt sei eine notwendige Widerspiegelung der Welt, in der wir leben. „Unsere Aufgabe als Schriftsteller ist es, so unangenehm das auch sein mag, gelegentlich das Licht auf die dunklen Ecken der menschlichen Existenz zu richten.“

Genau das tut Percy in seinem Epos – nahezu auf jeder Seite. Sein Text mag lang sein, aber kein Wort darin ist zu viel. Percy ist ein begnadeter Erzähler, dessen bildhafte Sprache mitunter vor Begeisterung sprachlos macht. Er hat ein fesselndes und aufrüttelndes Buch geschrieben, das den Leser mit den zentralen Fragen des Menschseins konfrontiert. Denn Percys Lykaner könnte man immer wieder durch Muslime, Schwarze, Aidskranke, Homosexuelle sowie jede Art von Minderheit ersetzen. „Roter Mond“ ist daher wohl auch einer der wichtigsten Post-9/11-Romane, die bisher geschrieben wurden.


5,2 Prozent sind infiziert. Ein Blick in Percys dystopische Welt zeigt das gut. 5,2 Prozent der US-Bevölkerung sind mit dem sogenannten Lobos-Prion infiziert. Die Wolfsverwandlung ist verboten und wird durch Zwangsmedikation unterbunden. Trägheit und Dahindämmern sind allzu oft der Nebeneffekt der Medikamente. Einzige Alternative: Auswandern in die Republik Lupos, einen kargen Landstrich zwischen Finnland und Russland. Dort dürfen Lykaner leben, wie sie wollen. Doch ausgerechnet dort wurde Uran gefunden, weshalb die USA militärisch eingegriffen haben. Das hat zur Folge, dass die Lykaner „mit Gewehren und Klauen“ dafür kämpfen, dass die US-Truppen das Land verlassen.

Die Besatzung ist auch der Grund dafür, dass der junge Patrick Gamble gleich zu Beginn des Buches an Bord eines Flugzeugs sitzt, in dem ein Lykaner alle Passagiere in Stücke reißt: „Die roten Spritzer an den Wänden sehen aus wie Höhlenmalereien. Überall tropft Blut, überall liegen Leichen in den unterschiedlichsten Verrenkungen wie umgestürzte und zersplitterte Statuen.“ Patrick überlebt als Einziger und muss fortan mit dem Spitznamen Wunderjunge weiterleben.

Patrick ist zwar die Hauptfigur, doch immer wieder rücken andere, fein gezeichnete Charaktere – ob Mensch oder Lykaner – in den Vordergrund. Es ist eine faszinierende und durchaus realistische Welt, die Percy beschreibt. Sie hat nichts mit gängigem Vampir- oder Werwolfkitsch zu tun.

Die Lykaner mögen bestialische Taten begehen, doch die Menschen stehen ihnen in nichts nach. Percy bringt das mit dem Appell eines Lykaners auf den Punkt: „Wisst ihr, wie viele Menschen pro Jahr von einem Lykaner angefallen werden? Elf. Weniger als von Haien. Aber man behandelt uns wie Schwerverbrecher. Also können wir ihre Erwartungen ebenso gut erfüllen. Schlagt zurück. Beißt zurück. Die öffentliche Datenbank und die Aufhebung der Antidiskriminierungsgesetze sind Hassverbrechen. Sie sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Lykaner sind Menschen. Wir sind Menschen.“

Fazit: Percy hält uns einen Spiegel vor, in den wir nicht sehen wollen, aber unbedingt sehen sollten.


Werwölfe als TV-Serie.
Percys Debüt-Roman, das Wildnisdrama „Wölfe der Nacht“ (das nichts mit Werwölfen zu tun hat), ist im Vorjahr auf Deutsch erschienen und zeigt eindrucksvoll, wie vielseitig der 35-jährige Autor ist. Apropos vielseitig: Percy adaptiert „Roter Mond“ momentan für den US-Sender FOX als TV-Serie, schreibt am Drehbuch für „Wölfe der Nacht“ und entwickelt eine Geschichte für einen Batman-Comic. Bleibt zu hoffen, dass auch seine zwei Kurzgeschichten-Bände auf Deutsch erscheinen werden.

Neu Erschienen

Benjamin Percy
„Roter Mond“
übersetzt von:
Michael Pfingstl
Penhaligon
638 Seiten,
20,60 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.05.2014)

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