»Winterkinder«: Eine Liebe im Kalten Krieg

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Mit dem Erinnerungsbuch »Winterkinder« liefert Owen Matthews einen berührenden Bericht über das Wüten des Stalinismus und das Überleben seiner Familie.

Niemand wird sagen können, es nicht gewusst zu haben: Während das offizielle Russland mit Versatzstücken der Stalin-Ära Identitätsstiftung versucht, reißt der Strom mitreißender Erinnerungen über die Verbrechen des Stalinismus nicht ab. In diese Reihe stellt sich das Erinnerungsbuch „Winterkinder“, in dem der britische Journalist Owen Matthews die berührende Geschichte seiner Eltern erzählt. Über alle Hindernisse finden sie schließlich zusammen, um feststellen zu müssen, dass die Verwirklichung eines Wunsches das Ende eines Traumes bedeuten kann.

Owen Matthews wurde 1971 als Sohn eines britischen Vaters und einer russischen Mutter im Londoner Westminster Hospital geboren, „das meine Mutter so luxuriös wie das Kreml-Krankenhaus fand“. Hierher hatte sie eine wahre Odyssee geführt – und ihre und ihres Mannes unbändige Willenskraft. Ihr Vater Boris Bibikow war ein kommunistischer Funktionär gewesen, der 1937 in der heutigen Ukraine zu einem Opfer der Säuberungen wurde. Anhand der Akte des Geheimdienstes NKVD, die er nach dem Zerfall der Sowjetunion in Kiew einsehen darf, rekonstruiert Matthews die Geschichte. Selbst sein Aufpasser ist davon gerührt.

Nach Bibikows Verhaftung (er wurde knapp drei Monate danach erschossen, ohne seine Familie je wiedergesehen zu haben) begann der NKVD, seiner Frau Marta, die mit den Töchtern Lenina (!) und Ljudmila (die beinahe den Namen Stalina bekommen hätte) zurückgeblieben war, als Frau eines „Volksfeindes“ immer härter zuzusetzen. Marta wird schließlich verhaftet und kommt in ein Lager im heutigen Kasachstan. Die Mädchen gelangen in ein Waisenhaus auf der Krim, wo die elfjährige Lenina der dreijährigen Ljudmila zur Ersatzmutter wird. „Sie war mein erstes Kind“, sagt sie später.

Obwohl auch die Mädchen in den Wirren des Zweiten Weltkriegs getrennt werden, überleben alle und finden nach dem Krieg wieder zusammen, wenngleich Mutter Marta „das Lager psychisch nicht überlebt hat“. Eine von Matthews frühesten Erinnerungen: „Ich spielte in unserem winzigen Garten Räuber und Gendarm. Meine Großmutter saß in einem Sessel und sah mir zu. Als ich ihr Spielzeughandschellen anlegte, begann sie hemmungslos zu weinen.“

Liebe zu Russland. Während die mütterliche Seite der Familie die Grausamkeiten des Stalinismus durchmacht, wächst Matthews' Vater Mervyn im walisischen Swansea auf. Er ist ein unglückliches und einsames Kind und lernt Russisch, „weil es das Fremdeste war, das er sich vorstellen konnte“. Er bekommt ein Stipendium für Oxford. Russland und seine Menschen werden zu seiner Obsession, 1957 reist er das erste Mal in die Sowjetunion: „Das Moskau, das er kannte, war ein kontrollierter, beklemmender Ort.“ Dennoch wird es für Mervyn der „Ort, der zu ihm passt“, und immer wieder zieht es ihn hierher. Natürlich wirft der Geheimdienst KGB ein Auge auf ihn, aber er lehnt eine Spitzeltätigkeit ab. Die Rache ist furchtbar: Im Herbst 1963 lernt er Ljudmila kennen, und für beide beginnt ein neues Leben: „Zwei einsame, lebensferne Menschen ohne Liebe fanden aneinander, was ihnen ihr ganzes entwurzeltes Leben lang gefehlt hatte.“

Doch kurz bevor sie im Mai 1964 heiraten wollen, wird Mervyn wegen „Wirtschaftsspekulation“ verhaftet und ausgewiesen. Für beide brach die Welt zusammen, doch sie gaben nicht auf. Hunderte Briefe zeugen bis heute von ihrer Leidenschaft. Mervyn opferte seine Karriere, sein Geld und sein Ansehen, um Ljudmila aus der Sowjetunion herauszuholen. Sie hielt durch. Nach fast sechs Jahren siegten sie. Doch die Liebe in den Briefen war einfacher gewesen als in der Wirklichkeit.

Ihr Sohn Owen geht Mitte der 1990er-Jahre nach Moskau und erlebt die Exzesse nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion uneingeschränkt mit: „Moskau war vulgär, korrupt und brutal.“ Irgendwann überkommt ihn ein gigantischer Ekel, und er macht sich auf die Suche nach seiner Familie. Was er gefunden hat, ist ein Geschenk an jeden Leser und in Tagen, in denen die Rückbenennung von Wolgograd in Stalingrad offenbar ernsthaft erwogen wird, dringlicher denn je.

Neu Erschienen

Owen Matthews: „Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg“
übersetzt von Vanadis Buhr
Graf Verlag, 392 Seiten, 23,70 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.06.2014)

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