Cemal vermisst die Berliner Mauer

Deniz Utlu
Deniz Utlu Marianna Salzmann/Graf Verlag
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Deniz Utlu zeichnet in "Die Ungehaltenen" die Lebenswege von Gastarbeiterkindern nach. Ein Roman über Freundschaft und Familie – und vor allem über eine ehemals geteilte Stadt.

Was wurde nicht schon gesagt und geschrieben über diese Mauer in Berlin, die jahrzehntelang eine Stadt schmerzhaft zweigeteilt hat? Und was blieb schon ungesagt über das Niederreißen dieser Mauer, der dazugehörigen Euphorie, der Wehmut, der Trauer und das elegische Zusammenwachsen Berlins? Doch, es gibt eine Geschichte, die hat bisher kaum jemand erzählt. Sie betrifft Onkel Cemal und seinesgleichen, Gastarbeiter und Migranten, die ab den 1960er-Jahren in das trübselige Berlin kamen und die Stadt nie anders kannten als in zwei Hälften zerlegt – und für die der Mauerfall ebenfalls ein Ausnahmezustand war. Die meiste Zeit trauert Onkel Cemal der Mauer sogar nach: „Sie war nicht schön, aber es war ruhiger mit ihr. Wir haben sie niedergerissen. Kaum war sie weg, wollte man, dass auch wir weggingen.“

Elyas hat Onkel Cemals wehmütigen Schilderungen schon oft zugehört, als sie in Cemals Berliner Küche saßen, wo das Teeservice nie wirklich sauber war. Zwei betrübte Gestalten, die nicht genau wissen, ob sie eigentlich in diese Stadt gehören oder nicht. Cemal und Elyas krebstoter Vater haben Jahre in derselben Fabrik zugebracht, diese Freundschaft führt Elyas nun fort. Elyas, der Protagonist in Deniz Utlus neuem Roman „Die Ungehaltenen“, ist ein komplizierter Charakter, orientierungslos, bisweilen unsympathisch – man möchte sagen: sehr typisch für zeitgenössische Berlin-Romane, die vor Düsternis und Ermüdung nur so triefen.

Fünfzig Jahre. Eigentlich ein Jus-Student, treibt sich Elyas aber lieber in den Berliner Straßenschluchten, in seiner Wohnung und der Bar seines Freundes Veit herum. Die Trauer über den Tod seines Vaters bürdet er seiner Mutter auf, wenngleich ihm seine Familiengeschichte keine Ruhe lässt. Er stößt sich an der Ignoranz, die die Bundesrepublik der Generation seiner Eltern entgegenbringt, die ihr Leben zwischen Fabrik und kargen Wohnungen zugebracht haben: „Fünfzig Jahre war es her, dass die ersten Bauern zu Fabrikarbeitern wurden (...) Fünfzig Jahre, und aus den Bauern wurden Arbeiter, Autoren, Schauspieler, Manager und Ärzte, Säufer und Drogentote. Fünfzig Jahre, und seit siebzig gab es die Republik, deren Geschichte eine andere gewesen wäre.“ Auf einer Veranstaltung, bei der ehemalige Gastarbeiter geehrt werden sollen, kommt Elyas mit der Ärztin Aylin ins Gespräch. Zwei Gleichgesinnte – und auch Aylin ist so eine Figur, die mehr Fragen hat, als es Antworten auf der Welt gibt.

Utlu verzichtet in seinem Roman auf sprachliche Aufregung. Nüchtern wird eine berührende Geschichte erzählt, über Familie, Freundschaft und Berlin. „Die Stadt klebt an mir wie Kuhscheiße“, sagt Elyas Freund Hekim, „ich werd sie nicht los. Ich will sie auch nicht mehr loswerden. Ich bin von hier. Ich bleibe hier.“ Das klingt so schön aus dem Mund eines Gastarbeiterkindes, und deswegen ist Utlus Roman auch das, was man ein gelungenes Stück nennen könnte. Elyas, Hekim und Aylin sind Kinder türkischer Eltern, aber Utlu zeigt auf, dass sie dieselben Kämpfe ausfechten wie jeder andere Berliner auch, wenngleich ihnen manchmal eine Identitätskrise in die Quere kommt. Elyas Mutter unterscheidet sich nicht von den Müttern deutscher Studienkollegen, denn sie alle wollen, dass die Kinder es schaffen, zu Anwälten werden, Ärzten usw. Und als Aylin und Elyas durch die Straßen Istanbuls wandern, sind sie im Prinzip auch nicht viel mehr als Touristen aus Deutschland.


Liebeserklärung. „Heute sind Migranten oft Geflüchtete, für die die Rückkehr lebensbedrohlich wäre“, schreibt Utlu über die Generation seiner Eltern. Als Sohn türkischer Einwanderer wurde er in Hannover geboren, studierte Volkswirtschaftslehre in Berlin und Paris und heuerte als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Institut für Menschenrechte an. „Die Ungehaltenen“ ist sein erster Roman – und man wird das Gefühl nicht los, dass das Buch auch eine Liebeserklärung an Berlin ist. Auch, wenn er seinen Protagonisten Elyas solche Sätze denken lässt: „Ich wollte, dass diese Stadt aufhört. Ich beugte mich hinunter zu ihr, zu meiner Stadt. Ich legte den Finger auf die Lippen und sagte: ,Sch!'“

Neu Erschienen

Deniz Utlu
„Die Ungehaltenen“
Graf-Verlag
240 Seiten
18,50 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.08.2014)

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