Eine Bastille für die Bestie Mensch

Man Ray de Sade
Man Ray de SadeBeck Verlag
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Er wurde als Monster und Staatsfeind behandelt, war Dutzende Jahre hinter Gitter: Das abenteuerliche Leben und das radikale Werk des Marquis de Sade sind auch 200 Jahre nach seinem Tod mit nichts vergleichbar.

Im Oktober 1763 hat ein junger attraktiver Adeliger in einer Absteige außerhalb von Paris ein Rendezvous mit einer Gelegenheits-Prostituierten, das bald zum Gerichtsfall werden wird. Vor der verängstigten Jeanne Testard schändet er zwei Hostien, ein Kelch wird als Sperma-Gefäß zweckentfremdet, die junge Frau bekommt eine Einladung zum gegenseitigen Auspeitschen sowie wie zur Darmentleerung auf ein Kruzifix. Sie schlägt beides aus, muss sich aber noch obszöne Verse anhören.
Dieser erste amtsbekannte „Akt der Ausschweifung“ des Marquis de Sade gehört nicht zu den Dingen, die einem geistesgeschichtlich zum Jahr 1763 als Erstes einfallen. Bekannter ist zum Beispiel, dass „Wolferl“ Mozart wenige Tage davor der Kaiserin Maria Theresia auf den Schoß gehüpft ist, oder dass Kant in jenem Jahr seine Schrift „Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes“ veröffentlicht hat. In Frankreich verteidigt derweil Jean-Jacques Rousseau sein neues Werk „Emile oder über die Erziehung“, in dem er postuliert: Der Mensch ist von Natur aus gut.
Der Mensch gut? Gott beweisbar? Da konnte Donatien Alphonse François de Sade nur lachen.

Ein Libertin wie viele?
Auffällig ist am ersten „Skandal“ in der Biografie des Marquis und bei vielen weiteren, wie wenig De Sade sich darum bemühte, seine sexuellen Aktivitäten geheim zu halten. Ansonsten aber war der 22-jährige frisch gebackene Ehemann nicht der einzige adelige Libertin, der damals außergewöhnlichen erotischen Vorlieben frönte. Und so wurde er auch mehr wegen der Gotteslästerung als wegen Unsittlichkeit in den alten Schlossturm von Vincennes, Symbol französischer Königsmacht, gesperrt: eine Ehre, die vor ihm schon führenden Aufklärern wie Denis Diderot widerfahren war.
Zwei Wochen nur dauerte die erste Haft des Marquis, eine läppische Strafe im Vergleich zu denen, die folgten. Insgesamt über zwanzig Jahre seines Lebens hat de Sade weggesperrt in Gefängnissen und zuletzt einer Irrenanstalt verbracht, er wurde wie ein gefährliches Ungeheuer behandelt, vor dem man die Welt schützen musste. Dass er mit 74 Jahren eines natürlichen Todes starb, grenzt an ein Wunder. Drei Regime – die Monarchie, die Republik und Kaiser Napoleon – machten ihn zum Staatsfeind. Seine Familie schwieg ihn tot, während er Bücher schrieb, wie sie die Welt noch nicht gelesen hatte: allen voran „Die 120 Tage von Sodom“ über das Treiben von vier Wüstlingen auf Schloss Silling im Schwarzwald. Als harte Arbeit an der „Geschichte des menschlichen Herzens“ offerieren sie sechshundert Varianten perverser Lust. Zu den berüchtigsten Werken gehören auch noch „Justine“ über das Endlos-Martyrium einer törichten Tugendhaften und „Juliette“ über das Heranreifen einer Super-Verbrecherin.
Es sind endlose Litaneien über damals (und zum Teil bis heute) unsägliche sexuelle Spielformen, Grausamkeiten, Mord – und über die Wahrheit der Welt: De Sades Wüstlinge sind nicht nur sexuell, sondern auch philosophisch unermüdlich, hämmern hundertfach Opfern und Lesern ihre Botschaft ein: Die Natur will das Böse, sie braucht die Zerstörung, um Neues zu schaffen. Der böse Mensch ist also gut, böse sind nur die widernatürlichen gesellschaftlichen Regeln.
Was hätte de Sade wohl zum Sadomaso-Bestseller „Shades of Grey“ gesagt? Oder zum Life Ball? Er hätte sich wohl halb totgelacht. „Peitschenhiebe, die auf ein vorher vereinbartes Stichwort hin aufhören, waren seine Sache nicht“, bemerkt der Sade-Biograf Volker Reinhardt.

Trost der Philosophie. Dank dem vom deutsch-österreichischen Psychiater Richard von Krafft-Ebing geprägten Begriff Sadismus kennt heute fast jeder den Namen des Marquis. Aber wäre dieser „nur“ ein Sadist gewesen, gäbe es keinen Grund, sich noch an ihn zu erinnern. De Sade fasziniert und erschüttert deswegen bis heute, weil er sich strikt und mit allen Konsequenzen weigerte, gegen seine Natur zu leben oder diese zu verstecken. Das macht aus seinem Leben zeitweise einen Abenteuerroman, wie ihn Alexandre Dumas nicht besser erfinden hätte können. Und als Schriftsteller verwandelte er seine Lebens- und Leidenserfahrung in eine für seine Zeitgenossen monströse, für ihn selbst offenbar rettende Philosophie: „Ich hänge an meiner Art zu denken mehr als an meinem Leben.“
Als Opfer staatlichen und gesellschaftlichen Terrors sah sich de Sade (nicht ganz zu Unrecht, weil er in politischen Konflikten immer wieder als Sündenbock diente) – und als ein „Galilei der Seele“. Erst lang nach seinem Tod fingen auch andere an, ihn so zu sehen, Künstler, wie der Autor der „Blumen des Bösen“, Baudelaire, vor allem aber die Surrealisten. De Sade wurde als Freiheitskämpfer, als Erforscher seelischer Abgründe und als Prophet des Terrors gefeiert.

Diese Tradition wirkt fort. Anlässlich von Sades 200. Todestags am 2. Dezember 2014  zeigt das Pariser Musée d'Orsay den Autor als Wegbereiter einer neuen Körperlichkeit in der Malerei, mit Bildern von Delacroix, Böcklin oder Picasso. In Frankreich gibt es mehrere neue Biografien, die wohl beste und fesselndste ist aber soeben auf Deutsch im Beck Verlag erschienen: „De Sade oder Die Vermessung des Bösen“ vom Historiker Volker Reinhardt.

Bildhübsch und bisexuell.
Wie wurde Sade, wie er war? Darüber zu spekulieren ist müßig, weder kann man ihn einer Psychoanalyse unterziehen noch weiß man viel über seine Kindheit und Jugend. Bildhübsch soll er gewesen sein, gehätschelt von den Freundinnen seines sexuell ebenfalls höchst aktiven Vaters (die Mutter war kaum präsent), ein geborener bisexueller Verführer. Als junger Soldat fällt de Sade durch Lust am Risiko, durch „Todesmut“ auf. Weil das Geld fehlt, arrangiert der Vater eine reiche Heirat. Die ersten Skandale folgen – der erwähnte Abend mit Kelch und Peitsche, dann eine junge Frau (möglicherweise ein Polizei-Lockvogel), die er fesselt und wundpeitscht. Richtig zum Verhängnis wird dem 32-jährigen Theaterfan aber eine andere Inszenierung: Bei einer Orgie in Marseille verabreicht er einigen Prostituierten gefährliche Aufputsch-Bonbons. Diese überleben, aber De Sade und sein Diener werden wegen Giftmischerei und „Sodomie“ (Homosexualität) zum Tod verurteilt. Der geliebte Vater hat sich da schon von ihm abgewandt. Nun geht es rund, der Marquis wird eingekerkert, entkommt, versteckt sich auf seinem Familienschloss Lacoste bei Avignon und macht eine Italien-Reise, bevor ihn die Häscher seiner mittlerweile größten Feindin, der Schwiegermutter, schnappen. Statt des Todesurteils befiehlt der König in einem Willkür-Dokument die Zwangsverwahrung auf unbestimmte Zeit. Elf Jahre Kerker werden es, die letzten fünf davon in der Bastille. Der einst Schöne wird dort dick wie eine Tonne.
De Sades Bücher, die großteils im Gefängnis entstanden sind, muss man vor dem Hintergrund totaler Ächtung, trostloser Haft und erzwungener Enthaltsamkeit lesen – und ohne vorschnelle Gleichsetzungen. Die totale Maßlosigkeit kommt nur in seinen Büchern vor. Auch wenn der junge Sade mit seinen „Lustobjekten“ nicht zimperlich umging, im Vergleich zu seinen Roman-Wüstlingen war er ein Lamm. Und diese sind nicht nur Sprachrohr des Autors, De Sade distanziert sich immer wieder von ihnen, woran nicht nur die Rücksicht auf Zensur schuld sein kann: Seine Unholde herrschen mit Terror und Zwang, damit ähneln sie Sades größtem Feind, dem Staat.

Gegen die Guillotine.
Der wirkliche Sade verabscheute auch staatlich sanktionierten Mord, inklusive Guillotine. Und das, obwohl er nach dem Sturm auf die Bastille den Revolutionär spielte, um seinen adeligen Kopf zu retten (um ein Haar wurde er trotzdem hingerichtet). Ja, er stilisierte sich zum Auslöser der Revolution, weil er zwölf Tage vor der Erstürmung der Bastille durch ein Abortleitungsrohr auf die Straße hinunter um Hilfe gerufen hatte . . . In Wahrheit aber war der Marquis, der dann unter Napoleon in einer Irrenanstalt endete, politisch heimatlos – und in jeder anderen Hinsicht auch.
Heute wäre er es ebenfalls, nur dass er weniger die „Sittlichkeit“ als die Menschenrechte gegen sich hätte. Nicht einmal in der von ihm entworfenen Idealgesellschaft wäre ihm wohl gewesen, denn die Lust bei Sade braucht den Regelbruch. Eine „Alles ist erlaubt“-Gesellschaft – wie langweilig!
Deshalb ist Sades Widerspruch selbst voller Widersprüche: Für einen Menschen wie ihn gibt es keine richtige Welt. Das könnte heutigen Lesern egal sein, gälte es nur für ihn. Aber während seine aufklärerischen Zeitgenossen an der perfekten Welt bastelten, brachte Sades Werk einen bis heute quälenden Verdacht auf: dass es für den Menschen eine richtige Welt nie geben kann.

Berüchtigte Romane

„Die 120 Tage von Sodom“:
Vier durch Steuer-Erpressung reich gewordene Franzosen verbringen mehrere Monate in einem zugemauerten Schloss, wo sie Dutzende Personen ihrer Sexualtyrannei unterwerfen.

„Justine“:
Das lange Martyrium eines Mädchens, das beharrlich gut bleibt: eine Demonstration der Nachteile der Tugend.

„Juliette“:
Die Gegendemonstration zu „Justine“ zeigt die „Vorteile des Lasters“: Juliette ist die bisexuelle und grausame Schwester Justines, sie reift zur mächtigen Super-Kriminellen.

Steckbrief

2.Juni1740
Geburt in Paris, Sades Vater stammt aus einer führenden provenzalischen Adelsfamilie.

1763
Heirat mit Renée-Pélagie de Montreuil aus einer bürgerlichen, aber reichen Familie.

1768
„Affäre Rose Keller“ – einige Monate Haft.

1772
De Sade betätigt sich auf seinem Schloss Lacoste als Theaterautor und -regisseur

1772
„Bonbon“-Affäre in Marseille, Todesurteil.

1773
Flucht aus der Festung Miolans.

1777
Einkerkerung in Vincennes, Flucht, neue Verhaftung.

1782
Beginn der Arbeit an den „120 Tagen von Sodom“.

1784–1789
Verlegung in die Bastille.

1794
Sade spielt den Revolutionär, wird aber trotzdem um ein Haar hingerichtet.

1803
Unterbringung in der Irrenanstalt von Charenton, wo Sade Theaterstücke aufführt und 1814 stirbt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.08.2014)

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Flaubert fand es noch schwierig, sich die verbotenen Texte De Sades zu besorgen. Erst seit den Sechzigerjahren fiel die Sade-Zensur in den meisten Ländern Europas.

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