Comic: Neue Helden im Bilderbuch der Neuen Welt

Lalo Alcaraz
Lalo Alcaraz(C) Lalo Alcaraz/ Facebook
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Das Werden der USA aus Sicht der Minderheiten, nicht aus der heroischer weißer Männer: Kulturwissenschaftler Ilan Stavans und der Zeichner Lalo Alcaraz haben mit „A Most Imperfect Union“ ein kleines Meisterwerk geschaffen.

Erst kam Kolumbus. Der hat Amerika zwar nicht wirklich entdeckt und, streng betrachtet, schon gar nicht als Erster, aber zumindest fast. Hundert Jahre später legte ein Schiff voller englischer Protestanten auf der Flucht vor religiöser Verfolgung in Massachusetts an, dann wurde weitere 150 Jahre eifrig gepflanzt und gebetet und die Erde Untertan gemacht, bevor man sich unter der Führung gottgleicher Gründerväter gegen den englischen König erhob. Darauf folgten 200 Jahre gloriose Ausbreitung nach Westen, der Sieg in zwei Weltkriegen und die Errichtung eines Weltreiches (gewiss: Die Sklaverei war unschön, man hat sich ihrer aber selbst entledigt).

Die Vereinigten Staaten von Amerika, eine unverzichtbare Nation, ihrem zwangsläufigen Schicksal folgend, von heldenhaften weißen Männern gegründet, aufgebaut und geführt: So lernen junge Amerikaner noch heute die Geschichte ihrer Heimat.

Doch was ist mit den anderen? Den Indianern, den schwarzen Sklaven, den armen Einwanderern, den Arbeitern und den Frauen? Ilan Stavans, Professor für lateinamerikanische Kultur am Amherst College in Massachusetts, ärgert sich über den stereotypischen Geschichtsbegriff der Amerikaner, seit er in den 1980er-Jahren als Sohn einer mexikanisch-jüdischen Familie in die USA eingewandert ist. Also hat er sich mit dem in Los Angeles lebenden Illustrator Lalo Alcaraz zusammengetan und Amerikas Geschichtsbild gegen den Strich gebürstet. Das Ergebnis, „A Most Imperfect Union: A Contrarian History of the United States“ (Basic Books, New York), ist eine mehr als 250 Seiten umfassende Reise durch Amerikas Staatswerdung, von Stavans geistreich und humorvoll erzählt und von Alcaraz großartig bebildert.

Freiheit als patriotische Propaganda

Leitmotiv dieses Buchs ist die kreative Zerstörung. Die Amerikaner hätten die Vorstellung, dass sie nur dann aufsteigen könnten, wenn sie andere in den Boden stampften. „Das ist ein Land, das Freiheit als patriotische Propaganda verwendet, ohne zu wissen, was das bedeutet. Hier bedeutet Freiheit häufig nur, dass man andere Menschen so leben lässt, wie wir es selbst tun“, sagt Stavans im Gespräch mit der „Presse“. „Die Freiheitsstatue ist insofern eine passende Metapher: Sie ist hohl.“

Siedler gegen Indianer, Herren gegen Sklaven, Millionäre gegen Slumbewohner: In Amerikas Geschichte folge auf jeden Akt der Unterdrückung stets ein neuer. So eine pessimistische Sichtweise ist nicht neu; man kennt sie in Reinform aus Howard Zinns millionenfach verkaufter Chronik „A People's History of the United States“. Stavans allerdings blickt zuversichtlich auf seine Wahlheimat: Weil er Amerika mag, sucht er nach den versteckten Helden seiner Geschichte. So erfahren wir von Phillis Wheatley. Sie wurde rund um das Jahr 1753 in der westafrikanischen Region Senegambia geboren und kam als Sklavin nach Boston. John Wheatley, ein reicher Kaufmann, kaufte sie 1761 und ließ sie in seiner Familie erziehen. Wheatley wurde zu einer Pionierin der afroamerikanischen Literatur, ihre Poesie begeisterte die Kritiker und auch George Washington.

Ein anderer Akteur in Stavans Chronik ist Hector St. John de Crèvecœur: Der 1735 in der Normandie geborene Landvermesser und spätere französische Konsul in den jungen Vereinigten Staaten lieferte in seinem Manuskript „Briefe eines amerikanischen Bauern“ eine heute noch zutreffende Beschreibung des amerikanischen Geistes: „Der ist ein Amerikaner, der seine alten Vorurteile und Sitten zurücklässt und neue von jener Lebensart empfängt, die er annimmt.“

Wenn Mexiko 1848 gewonnen hätte

Auch die bemerkenswerten (wenn auch , angesichts des erst 1919 eingeführten Frauenwahlrechts, fruchtlosen) Briefe von Abigail Adams an ihren Gatten John, den zweiten Präsidenten der USA, finden ihre Erwähnung. „Übrigens wünsche ich mir, dass Ihr an die Damen denkt, wenn Ihr den neuen Gesetzeskodex verfasst, und dass Ihr ihnen gegenüber großzügiger und gefälliger seid als Eure Vorfahren“, schrieb sie am 13. März 1776. „Legt nicht so unbegrenzte Macht in die Hände der Ehemänner. Denn denk daran: Alle Männer wären Tyrannen, wenn man sie ließe.“

Angesichts der demografischen Entwicklung prophetisch erscheint wiederum das Buch „Die Kosmische Rasse“ des Mexikaners José Vasconcelos aus dem Jahr 1925, in dem dieser ein Zeitalter der Mestizen, der Nachfahren von Europäern und Indianern, kommen sah. Auch diesen heute fast vergessenen Autor würdigt Ilan Stavans in „A Most Imperfect Union“.

All das hat Alcaraz hinreißend illustriert. Wie ein Film rauschen die Bilder dahin, stets mit einem Augenzwinkern, wenn zum Beispiel Kolumbus die Insel Hispaniola im Namen der „Spain Inc.“ in Besitz nimmt, wo bereits ein „Indian Starbucks“ auf ihn wartet.

Stavans hofft, dass die Amerikaner eine realistischere Sicht auf ihre Herkunft gewinnen. Er findet zum Beispiel, dass die Darstellung der Bürgerrechtsbewegung zu heroisch sei: „Wir haben Menschen wie Rosa Parks und Martin Luther King jr. zu Märtyrern gemacht, um uns selbst besser zu fühlen. Kings Ideen wären dann nicht zu einem Denkmal erstarrt, sondern wir hätten sie in der Realität testen können, wenn er sich um ein politisches Amt beworben hätte.“

Sein liebstes historisches Gedankenexperiment dreht sich um den Mexikanisch-Amerikanischen Krieg von 1846 bis 1848. „Was wäre, wenn Mexiko damals gewonnen hätte?“, fragt Stavans. „Mexiko wäre dann eine Weltmacht geworden, und die Vereinigten Staaten hätten Kalifornien nicht, das seine wichtigste wirtschaftliche Maschine ist.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.09.2014)

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