Hatte Ödipus eine Brüderhorde?

Kulturmontag Spezial aus Salzburg mit art.genossen: Oedipus.komplex
Kulturmontag Spezial aus Salzburg mit art.genossen: Oedipus.komplex(c) ORF
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Um „Schuld und Sühne“ geht es heuer in Lech. Zu Beginn stand, ganz im Geiste Sigmund Freuds, der Vatermord: im Drama des Sophokles und bei Dostojewski.

Ihr führt ins Leben uns hinein, ihr lasst den Armen schuldig werden, dann überlasst ihr ihn der Pein; denn alle Schuld rächt sich auf Erden.“ Diese ergreifende Anklage der „himmlischen Mächte“ aus Goethes „Harfnerlied“ könnte gut als Motto für das heurige Philosophicum Lech dienen. Sigmund Freud hat sie gern zitiert, so wie einen knapperen Satz Goethes: „Im Anfang war die Tat.“ Denn Freud bestand darauf, dass die Wurzel von Totem und Tabu, von Religion und Kultur eine archaische Tat sei: der Vatermord, begangen von der Brüderhorde. Das christliche Abendmahl sah Freud als letzte Konsequenz dieses urzeitlichen Verbrechens: Die Brüderhorde verspeist nicht mehr wie in der Totemmahlzeit sinnbildlich den Vater, sondern einen aus ihrer Mitte, der sich für sie als Agnus Dei geopfert hat.

Freuds tragischer Held war freilich nicht Christus, sondern Ödipus, der die Tat allein begangen hat, unwissentlich den Vater erschlagen und die Mutter geheiratet hat. Wie im Drama des Sophokles diese Tat aufgeklärt wird, erklärte Altphilologe Karlheinz Töchterle, der schon als Wissenschaftsminister mehrmals in Lech geglänzt hat, in einem bestechenden Referat. Zum Schluss erwähnte er ein zweites Ödipus-Drama, das des Seneca: Darin nimmt Ödipus das Übel – manifestiert durch eine Seuche in Theben – auf sich, indem er als Sündenbock aus der Stadt verschwindet. Dahinter stehe, so Töchterle, die stoische Idee der „sympatheia“, des Mitleidens mit allen, mit dem ganzen Kosmos.

„Jeder, der sündigt, sündigt damit schon immer gegen alle, und jeder ist irgendwie an der fremden Sünde mitschuldig. Einzelne Sünden gibt es nicht“, schrieb Dostojewski in einer später gestrichenen Stelle der „Dämonen“. Die russische Philosophin Ekaterina Poljakova sprach in Lech über Dostojewskis Idee der Verantwortung, in „Schuld und Sühne“ – neuerdings korrekter als „Strafe und Verbrechen“ übersetzt – natürlich, aber auch in den „Brüdern Karamasoff“. Die sah Freud ja als dritten literarischen Beleg für den Ödipuskomplex, nach Ödipus und Hamlet.

Dostojewski und die „Schuldkultur“

Die vier Brüder Karamasoff sind ja eine seltsame Brüderhorde, sie erschlagen den schrecklichen Vater zwar nicht wirklich gemeinsam, aber zumindest drei tragen Schuld an der Tat, Smerdjakow, weil er sie begangen hat, Iwan und Dmitri, weil sie sich den Tod des Vaters gewünscht haben. Der vierte Sohn, der Mönch Alexej, sollte den möglichen Weg der Erlösung von der Schuld verkörpern, im zweiten Teil, den Dostojewski nicht mehr schreiben konnte. Dieser breche mit der Vorstellung, dass der Mensch im Sinne Kants seine Wünsche und Triebe frei abwägen könne, meint Poljakova: Seine Idee von allumfassender Schuld und Unfreiheit sei für „westliche Ohren“ fremd. Doch: „So neu ist dieser Gedanke nicht. ,Agnus dei qui tollis peccata mundi‘, das wiederholt die christliche Welt seit 2000 Jahren.“

„Der moderne Mensch fühlt sich für vieles, eigentlich für fast alles verantwortlich“, hatte Konrad Paul Liessmann in seinem Einführungsreferat diagnostiziert. Könnte man diese Neigung als die säkulare Variante der Idee Dostojewskis sehen? Maria-Sibylla Lotter (Uni Bochum) sieht diese „Schuldkultur“ skeptisch: Ihr Verlust sei kein beklagenswerter Kulturverfall. Lotter plädiert stattdessen für ganz praktische moralische Verantwortung, auch für „akzeptable Ausreden, die es dem Täter ermöglichen, moralische Haftung zu übernehmen, ohne das Gesicht zu verlieren“. Als Beispiel nennt sie den Agamemnon in der „Ilias“: Er bekennt sich nicht als schuldig, er redet sich heraus, aber er beschenkt Achill reich und gibt ihm die entführte Frau zurück. In diesem Sinn, so Lotter, solle man den Schwerpunkt der moralischen Verantwortung „wieder dorthin orientieren, wo er hingehört: weg vom Täter, hin zum Opfer“. Die Beschäftigung mit der Schuld mache das nicht leichter. Hätte es sich Ödipus also sparen können, sich die Augen auszustechen? Würde er heute eher ein (am Tod des Laios schuldiges) Aggressionsgen beklagen als das Fatum oder den Hass der Götter? Dazu wird man bis Sonntag noch einiges hören in Lech.

Der Einführungsvortrag von Philosophicum-Leiter Konrad Paul Liessmann ist im „Spectrum“ zu lesen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.09.2014)

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