Ian McEwan lässt eine Höchstrichterin fast romantisch werden

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Literatur im Nebel. Der britische Erfolgsautor kommt am Samstag und Sonntag zu einem Festival ins Waldviertel. Dort liest er aus seinem soeben erschienenen Roman „The Children Act“. Das Buch beschäftigt sich subtil mit Justiz, der gehobenen Gesellschaft und sogar mit Ausbruchsversuchen.

An diesem Wochenende gibt es hohen literarischen Besuch in Heidenreichstein: Der Brite Ian McEwan ist zu Gast bei Literatur im Nebel, als neunter Autor von Weltruf, dem seit 2006 im Waldviertel ein intensives Festival bereitet wird. Theaterleute und Autoren werden an zwei Abenden aus seinen Prosawerken lesen – 13 Romanen und zwei Bänden Kurzgeschichten. Daniel Kehlmann führt mit McEwan ein Gespräch, Fachleute analysieren das Œuvre, die Verfilmung von „Atonement“ (2001) wird gezeigt. Zum Schluss gibt es Auszüge aus einem eben erst veröffentlichten, kurzen Roman zu hören: „The Children Act“ (auf Deutsch soll „Kindeswohl“ Anfang 2015 bei Diogenes erscheinen). Der Autor und die Burgschauspielerin Christiane von Poelnitz werden daraus vortragen.

Das Buch ist eine geschliffene Geschichte aus dem Milieu der britischen Justiz. Erzählt wird aus der Perspektive einer Höchstrichterin, Fiona Maye. Ihr Fach: Familien, Scheidungen, wer bekommt die Kinder, aber immer wieder auch Fälle, in denen es um Religion geht. Die kinderlose Frau hat sich meist unter Kontrolle. Bis ihr der Gatte nach drei Jahrzehnten Ehe im trauten Heim im Zentrum Londons eröffnet, er plane eine Affäre. Midlife Crisis. Sie seien doch tolerant. Fiona ist wegen des Verrats aufgewühlt, zeigt das aber nur ungern. Es dürfte etwas dran sein an Jacks Vorwurf, dass sie recht kalt sei. Zu lange schon schlafe sie nicht mehr mit ihm. Man erfährt dann auch ein Detail, das im Verlauf der Handlung Bedeutung erhält: Die Dame ist eine ausgezeichnete Pianistin. Jazz kriegt sie zum Bedauern ihres Mannes nicht hin.

Ein höllisches Dilemma mit Zwillingen

Wie zur Bestätigung schweifen in diesem Ehestreit im inneren Monolog die Gedanken der fast schon betrogenen Ehefrau immer wieder zu Gerichtsfällen ab, die sie präzis abgeschlossen hat oder in denen sie bald Recht sprechen wird. Sie erinnert sich an ein Urteil, durch das sie berühmt wurde: siamesische Zwillinge, die sterben würden, würde nicht der Schwächere geopfert – die Richterin entschied sich für das Leben des stärkeren Zwillings. Sie geht geistig den Fall durch, den sie am nächsten Tag verhandeln wird: Ein Zeuge Jehovas, gerade noch minderjährig, verweigert auf Geheiß der streng religiösen Eltern und der örtlichen Vorsteher dieser Sekte Bluttransfusionen zur Unterstützung seiner Chemotherapie. Die Leiter des Krankenhauses haben geklagt: Dieser Adam würde bald sterben oder schwer behindert sein, wenn er nicht rasch neue Blutkörperchen bekommt. Solche ethischen Zwangslagen sind die Spezialität der Richterin. Dieses Dilemma wird zum Hauptthema des Romans.

Fiona beschließt mitten in der Verhandlung, den schwer kranken Jugendlichen im Spital zu besuchen. Zwei intelligente Außenseiter treffen sich. Sie müssen wohl ausbrechen, um zu sich selbst zu finden, reden über Musik, Poesie, Glauben. Fiona fährt zurück ins Gericht und trifft ihr Urteil. Daraus entwickelt sich dann eine zartbittere Geschichte. Jack ist inzwischen ausgezogen, zu seiner frischen Leidenschaft. Wird er zurückkommen? Wird Adam gerettet? Und wie wird das Konzert sein, das Fiona mit einem Kollegen vor ihrer Zunft in Gray's Inn gibt, mit romantischer Musik, die ihr auch nie aus dem Kopf geht? Im fünften und letzten Kapitel führen all diese Stränge zusammen.

McEwan hat einen reifen Roman geschrieben, fast ein Alterswerk schon, das einen bei der Lektüre vor allem durch seinen schnörkellosen, brillanten Stil vor Ennui bewahrt. Man taucht für ein paar Stunden ein in die Denkweise einer heiklen Profession, in die Welt Wohlhabender. Eine sensible Frau aus dieser Klasse ist der irritierenden, ja unheimlichen Begegnung mit einem weniger behüteten, jüngeren Mann ausgesetzt. Bei McEwan fühlt man sich auch diesmal wie schon oft zuvor fast so einsam wie bei Kafka.

Auf einen Blick

Ian McEwan, geboren 1948 in der südenglischen Stadt Aldershot als Sohn eines Soldaten, hatte bereits mit ersten Short Storys großen Erfolg. Auf „First Love, Last Rites“ (1975) folgten ein weiterer Band Kurzgeschichten und, beginnend mit „The Cement Garden“ (1978), bisher 13 Romane, für die er vielfach ausgezeichnet wurde. „Amsterdam“ brachte ihm 1998 den Man Booker Prize ein. Weitere Bestseller: „Saturday“ (2005), „On Chesil Beach“ (2007), „Solar“ (2010) und „Sweet Tooth“ (2012).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.09.2014)

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