Ein Autor träumt von Hirnchirurgie

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Ian McEwan war am Wochenende beim Festival in Heidenreichstein zu Gast. Er ertrug viel Lob - mit Anekdoten und hintergründigem Humor.

Seit Wochen war die Margithalle in Heidenreichstein, die gut 700 Besucher fasst, ausverkauft, wegen Ian McEwan als Ehrengast des Festivals Literatur im Nebel. Wie alle dort seit 2006 präsentierten Schriftsteller zeigte er sich von der Kulisse beeindruckt. Zuerst von der Natur des Waldviertels: Als es aufklarte, unternahm er einen Waldspaziergang. Dann aber, am späten Nachmittag, überwältigten ihn die Kulisse der Literaturfreunde und die ersten Beiträge: „Ich finde es außerordentlich toll, hier zu sein“, schmeichelte er dem Publikum und fügte in seiner selbstkritischen Art hinzu: „So sehr im Mittelpunkt zu stehen ist für einen Schriftsteller nicht immer gut.“

So wies er bescheiden zurück, immer schon Bestseller geschrieben zu haben: Von seinem ersten Buch (1975) habe er nur 1200 Exemplare verkauft. Erst „Enduring Love“ (1997) kam unter die Top 20. „Heute bedeutet mir der Erfolg vor allem, dass ich genau das schreiben kann, was ich will. Aber das tue ich ohnehin immer. Es ist ein fantastisches Glück, vom Schreiben leben zu können!“

Vor diesem Geständnis hatte Tobias Moretti mit großer Empathie für jugendliches Denken und Fühlen aus McEwans „Tagträumer“ vorgetragen, nach ihm las ein Quartett abwechselnd aus dem sinistren ersten Roman, „Der Zementgarten“. Das gehört zum Reiz dieses Festivals: die Zusammensetzung der Auftritte und die Dramaturgie der Texte. Anfangs ging es um Kindheit, dann um die Romane der Reife, schließlich ums Ganze.

„Zwanghafter Tagträumer“

Psychiater und Schriftsteller Paulus Hochgatterer analysierte McEwan und seine Helden, bewunderte ihn dafür, sich in jedes seiner Themen investigativ perfekt einleben zu können: etwa in „Saturday“. Er, Hochgatterer, habe zuvor damit spekuliert, einen Arztroman zu schreiben, falls ihm nichts mehr einfalle. Nach dem Lesen von „Saturday“ aber habe er gewusst: „Meine letzte Reserve hatte sich eben aufgelöst.“ Die Hauptaufgabe des Romanciers sei es, interessant zu sein, zitierte er Henry James. Das treffe auf McEwan zu.

Dieser kam im Gespräch mit Bettina Hering, Intendantin des Landestheaters Niederösterreich, ausführlich zu Wort. „Ich war ein zwanghafter Tagträumer und bekam dadurch auch in der Schule Schwierigkeiten“, bekannte er auf die Frage, ob er seinem jungen Helden in „Tagträumer“ ähnle. Diesen Text habe er übrigens für seine zwei Buben verfasst, als Gutenachtgeschichten. Die Motivation, über Kinder zu schreiben, wurzle neben den Ängsten wohl auch in dem Wunsch nach einer sicheren Zukunft: „Kinder geben dir die fundamentale Hoffnung, dass das menschliche Projekt doch erfolgreich sein wird.“

Wie erklärt er dann aber das Abgründige in ersten Short Stories, für die ihn Kritiker „Ian Macabre“ genannt haben? „Ich konnte mir in den frühen Zwanzigern eine rücksichtslose Fantasie leisten. All das ändert sich aber, sobald man realistisch wird. Der Luxus des Pessimismus verblasst.“

McEwan bewies sich auch als Anekdotenerzähler. Für „Saturday“ habe er zwei Jahre lang einen Neurochirurgen („Gehirnchirurgen sind eine besondere Form von Psychopathen“) begleitet. „Ich hatte viele Operationen beobachtet und wollte sie schon selbst durchführen.“ Eines Tages titulierten ihn zwei Medizinstudenten im OP als Doktor und fragten, ob sie zuschauen dürften. „Selbstverständlich sagte ich Ja!“ Und er erklärte ihnen genau, was bei diesem Eingriff an der mittleren Hirnarterie passiere. „Die Studenten bedankten sich bei mir. Ich habe mich danach immer wieder gefragt, wie sie wohl bei der Prüfung abgeschnitten haben.“

Zu McEwans Vorbildern zählt William Golding, aber: „Die zweite Hälfte des 20.Jahrhunderts war die Zeit des US-Romans.“ Bei den Briten hätten bloß Themen wie Scheidung und Streitereien der Mittelklasse dominiert, als seine Generation heranreifte: „Ich wollte schockieren, in kräftigen Farben malen, Wände einreißen. Sie fielen aber um, wenn man sie nur antippte.“

„Auf der Flucht vor dem Modernismus“

Er orientierte sich auch an García Márquez, Cortázar, Camus und Handke: „Wir reisten viel und waren ungeduldig.“ Nach der vom Krieg verletzten, nach innen gewandten Vätergeneration seien die Jungen „auf der Flucht vor dem Modernismus“ gewesen: „Wir wollten von Joyce lernen, zugleich aber nicht Charakter und Handlung verlieren, wie es sie bei Tolstoi und Austen gab.“ Seine Generation habe diese Tradition wiederbelebt. Aus Respekt vor dem Leser: „Es ist doch hart für ihn, 25 Stunden mit einem mittelgroßen Roman zu verbringen, der ihn nicht interessiert. Das klingt für manche Autoren vielleicht etwas vulgär, aber ich halte das für essenziell.“ Schreiben habe Parallelen zum Komponieren: „Man muss Ton und Geschwindigkeit als Dienst am Leser ständig ändern.“

Wie gut das Ian McEwan kann, zeigte sich, als Kammerschauspielerin Elisabeth Orth eine fantastisch komponierte Passage aus dem Roman „Liebeswahn“ mit großer Musikalität vortrug. Man zitterte bei einem Ballonunglück mit, das nur der Auftakt für eine seltsame, zwanghafte Liebesgeschichte ist. Diese nächtliche Lesung am Samstag stimmte auf weitere Highlights am Sonntag ein, mit Künstlern wie Daniel Kehlmann, Erwin Steinhauer, Michou Friesz und Anna Kim. Sie alle ehrten Commander McEwan.

DICHTER IN HEIDENREICHSTEIN

Literatur im Nebel fand an diesem Wochenende zum neunten Mal in Heidenreichstein statt. Die Idee dazu hatten der österreichische Kontrollbank-Chef Rudolf Scholten, der auch Gastgeber für die Autoren ist, und der Dichter Robert Schindel. Dieses Festival bringt Weltliteratur ins Waldviertel. Vor Ian McEwan wurden dort bisher folgende Literaten gefeiert: Salman Rushdie, Amos Oz, Jorge Semprún, Margaret Atwood, Hans Magnus Enzensberger, Nuruddin Farah, Ljudmila Ulitzkaja, Louis Begley.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.09.2014)

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