Friedrich Orter: "Nein, du wirst nicht sterben"

Friedrich Orter
Friedrich OrterDie Presse
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Jahrzehntelang war Friedrich Orter für den ORF als Reporter an den gefährlichsten Orten der Welt unterwegs. In seinem neuen Buch blickt er auf Schicksale und Grenzerfahrungen zurück. Ein Auszug.

Ich war an vielen Fronten.

Eine war die furchtbarste, Station 10, Zimmer 4, Palliativ-Onkologie in einem Wiener Krankenhaus.

Ich habe zu viele Tote gesehen, und jetzt sehe ich meine Frau sterben, meinen Lebensmenschen seit vierzig Jahren.

„Warum fährst du nicht zu Gaddafi?“, fragt sie, „wenn du mit deinen wirren Locken mit der Dschallabija verkleidet durch unsere Wohnung gewirbelt bist, hast du für mich ihm ähnlich gesehen.“

Stille.

Ein kahles Zimmer, Desinfektionsgeruch, ein Blumenstrauß auf dem Besuchertisch.

Und, abgestellt in einem Eck, das Köfferchen, das dieses eine Mal ich für sie packen musste. Sie zitiert einen ihrer Lieblingssätze von Franz Grillparzer:

Sei immer du und sei es ganz,

früh stirbt die Blume,

nie der Kranz.

Sie erinnert sich, dass ich ihr erzählt habe von all den Scheußlichkeiten, die ich gesehen und gehört habe – Maschinengewehrsalven, Trümmer, Morde, Vergewaltigungen –, und ich weiß, dass diese Belastung oft zu viel für sie war.

Ich erinnere mich, dass jede Heimkehr ein Ritual war. Ich stellte ihr den Koffer hin, voll gestopft mit schmutziger Wäsche, und sie hörte mir zu.

Sie war stolz auf mich, nahm für mich Preise entgegen, wenn ich wieder einmal in den Niemandsländern unterwegs war. Und manchmal warf sie mir vor, dass ich als ORF-Reporter wieder einmal zu spät am Schauplatz war.

„Wenn du in Pension bist, zeigst du mir alle Plätze, wo du überlebt hast. Und dann gehen wir auf einen Ball. Noch einmal. Wie damals 1971 zum Uni-Ball.“

„Du weißt doch, ich bin ein elender Tänzer.“

„Nein, du hast mit dem Tod getanzt.“


Sie versucht, unsere Tochter anzurufen – und weiß die Telefonnummer nicht mehr.

„Glaubst du, dass ich sterben muss?“

„Nein!“

„Sagst du das nur, um mich zu beruhigen – oder glaubst du das wirklich?“

„Nein, du wirst nicht sterben!“

Die größte meiner Lügen, die ich ihr angetan habe. Sie lächelt müde, zu müde. Ich weiß, dass sie sterben wird.

Eine von vielen, die ich sterben sah. Aber sie war meine Frau.

In einem Metallsarg wird sie weggebracht.

Ich filme ihr Begräbnis. Wie so viele Begräbnisse von Kriegsopfern, auf denen ich den Schmerz der Angehörigen letztlich nicht begriffen habe.

Jetzt begreife ich. Die Toten verdienen Würde.

Etwas war weggebrochen in mir. Mir fehlte die Kraft, den ORF-Gebührenzahlern alles zu geben. Aber ich wollte es noch einmal wissen: nicht mehr als wohlbestallter Reporter, sondern als unabhängiger Journalist auf eigene Faust im syrischen Bürgerkriegswahnsinn im Frühling 2013. In Daraa, auf halbem Weg zwischen Amman und Damaskus, in einer der ältesten arabischen Städte, wo im März 2011 der Aufstand gegen das Assad-Regime begann. Mit Protesten vor der Al-Oman-Moschee und Demonstrationen, die Assads Armee blutig niederschlug.

Ein Schlepper der Freien Syrischen Armee schleust mich aus dem jordanischen Ramtha durch das Niemandsland nach Daraa, verirrt sich im Kugelhagel auf der Suche nach dem verabredeten Treffpunkt. In einem zerschossenen Häuserblock finden wir vermeintliche Sicherheit. Aus dem vierten Stock des Gebäudes schießen junge Männer in Jeans auf junge Männer in Uniformen, auf Assads Soldaten. Auf den Straßen verrotten leblose Körper.

Ich will fort von hier. Ich will nie mehr vor Wut und Trauer verzweifelte Frauen in schwarzen Gewändern sehen, die über den Leichen ihrer Männer und Kinder kniend ihren Schmerz hinausschreien.

Ich habe sie gefilmt. Aber ich habe mit meinen Bildern keinen künftigen Krieg verhindert. Und ich will meinen Freunden, Producern, Dolmetschern nicht mehr erklären, dass ich nicht nach Australia, sondern nach Austria heimfahren darf.

Die Arbeit eines Kriegsreporters hat sich verändert. Gefordert sind heute Schnelligkeit und Präsenz rund um die Uhr – multimedial. Für aufwendige Recherchen fehlt den Redaktionen oft das Geld. Quotendruck verhindert Originalität.

Ich weiß, in zehn Jahren gibt es meinen Beruf, wie ich ihn liebte, nicht mehr. Ich sehe die jungen Kollegen, die als billige Arbeitskräfte ausgebeutet werden und in drei Tagen das Unmögliche zustande bringen sollen, sechs Themen zu bearbeiten, über die zu recherchieren sie keine Zeit haben. Sport und Unterhaltung bringen Geld, nicht Kriegs- und Auslandsberichterstattung.

Ich erinnere mich an meine geschätzte Kollegin, die mir während der Balkankriege erklärte: „Wir wollen deine Leichen nicht mehr sehen. Die Zuschauer auch nicht.“

Damals habe ich mich geärgert. Heute nicht mehr.

Ich erinnere mich an Niki, Kurt, Miguel, Nils, Marie und all die anderen Kollegen und Kolleginnen, die ihren Job mit dem Leben bezahlten. Mein Leben kommt mir vor wie ein Film. Auch wenn ich nur ein Nebendarsteller war, der um sein eigenes Leben fürchtete. Es war nicht nur die gesunde Angst, die mich Gefahren einschätzen ließ. Es war die existenzielle Angst, die Angst vor dem eigenen Tod.

Die Kriegstrommeln werden noch immer geschlagen. Das Abschlachten auf den Kriegsschauplätzen geht weiter. Frieden wird es nie geben, aber vielleicht eines Tages keine Kriege mehr, wie ich sie kannte.

Ich bin alt geworden.

Ich weiß nicht, warum ich noch lebe.

Steckbrief

Friedrich »Fritz« Orter (geb. 1949) wurde vor allem als ORF-Berichterstatter aus Kriegs- und Krisenregionen bekannt. Nach einem letzten Einsatz in Syrien 2012 ging er in den Ruhestand.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.10.2014)

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