Die prekäre Welt der Tooly Zylberberg

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Tom Rachman hat mit "Aufstieg und Fall großer Mächte" einen verzweigten Roman über verirrte Kinder, zynische Manipulatoren, die USA und den Wert von Beziehungen geschrieben.

Der „Distelfink“ hat ein Weibchen – und es flattert durch die Seiten von Tom Rachmans „Aufstieg und Fall großer Mächte“. Wie in Donna Tartts gefeiertem Roman geht es auch in Rachmans jüngstem Werk um die Reise eines jungen Menschen zu sich selbst, vom 20. in das 21. Jahrhundert, über mehrere Kontinente, durch viele Herzen und über die eine oder andere Leiche. Hier wie da gibt es miese Manipulatoren, geldgierige Familienmitglieder und ältere väterliche Beschützer. Konzepten wie Kultur, Bildung und Intellektualität wird mit einem sentimentalen Tränchen nachgewinkt und das moderne Amerika kritisch unter die Lupe genommen. Sogar Charles Dickens klingt in beiden Romanen durch.

Wie „Der Distelfink“ ist auch „Aufstieg und Fall großer Mächte“ ein packendes, überraschendes und sehr lesenswertes Buch. Nur einen Unterschied gibt es. Während Donna Tartts Held, Theodore Decker, einsehen muss, dass man eben ist, wie man ist, erhält Rachmans Protagonistin, Tooly Zylberberg, nicht nur die Chance, sich immer wieder neu zu erfinden, sondern kann sich letzten Endes auch entscheiden, wer sie gern bleiben möchte.

Tooly (eigentlich Matilda) Zylberberg ist zu Beginn des Romans Anfang 30, für ihr Alter bereits erstaunlich verschroben und Inhaberin eines verlustmachenden Secondhand-Buchladens in der kleinen walisischen Ortschaft Caergenog. Man schreibt das Jahr 2011, und Toolys einzige Sorge ist, wie lange sie die marode Buchhandlung noch aus ihren Ersparnissen finanzieren kann. Dieser angenehme, wenn auch ereignislose Zustand ändert sich abrupt durch das Mail eines alten Liebhabers. Ihr Vater sei in New York überfallen und verletzt worden, sie solle sofort kommen. Nur dass der alte Mann, Humphrey, gar nicht Toolys Vater ist.

Schachspieler und Mephisto. Wer er wirklich ist, erzählt Rachman in drei ständig wechselnden Zeitzonen, in die er Toolys Leben einteilt: 1988 in Bangkok, 1999/2000 in New York und 2011, als Tooly auf einer Pilgerreise zwischen Wales, New York, Italien und Irland mit ihrer Vergangenheit abrechnet, um endlich ihren Frieden zu finden.

Diesen braucht sie sehr, denn ihre Geschichte könnte haarsträubender nicht sein. Von ihrem Vater, Paul, entführt, wächst Tooly in den hintersten Winkeln der Welt auf, immer an einem anderen Ort. Warmherzigkeit, verlässliche Beziehungen sind Mangelware. In Bangkok treten dann die chaotische, manische Sarah, der alte Schachspieler Humphrey und der charismatische, manipulative Venn in das Leben des emotional ausgehungerten Mädchens. Venn, kaltschnäuziger Seelenspieler und Westentaschen-Mephistopheles, wird Toolys Welt, ihr Anker, aber auch fast ihr Verderben. Erst als Erwachsene erkennt sie, wer ihr wohlgesinnt war, und wer sie nur benutzt hat.

Rachman nutzt den „Aufstieg und Fall großer Mächte“, um die Heilslehre vom Individualismus unter die Lupe zu nehmen. Seine Figuren stellen sich ganz bewusst an den Rand der Gesellschaft: „Nur für Außenseiter“, sagt Humphrey, „besteht die Möglichkeit, anständig zu bleiben, da es in der Natur jeder Gruppe liegt, die Integrität ihrer Mitglieder zu untergraben.“ Doch solch eine Position lässt sich nicht mit Samthandschuhen behaupten, dafür muss man lügen, betrügen, Bindungen verweigern und Menschen nur zur Befriedigung seiner Bedürfnisse an sich heranlassen. Konventionen wie Essen oder Kleidung sind Toolys „urban family“ egal. „Jeder ist seine eigene Nation, sein selbstgefälliger Blog, kann sich ständig neu erfinden“, resümiert Venn in seinem letzten Gespräch mit Tooly.

Beliebigkeit ist Trumpf. Rachman hat viele kluge Gedanken in seinen Roman gepackt: über die USA, die triumphierende Beliebigkeit in einer Zeit virtueller Blasen, den Wert echter Bildung, die Beziehungsfußfallen, die Verantwortung, die man füreinander übernehmen muss. Tooly ist das unbeschriebene Blatt, auf dem Hinz und Kunz ausprobieren, wie weit man leichtgläubige Menschen formen kann. Bis Tooly entdeckt, dass sie doch um einiges mehr wert ist, hat man dieses wunderbare Buch auch schon zu Ende gelesen.

Neu erschienen

Tom Rachman
„Aufstieg und Fall großer Mächte“


Übersetzt von Bernhard Robben

dtv
496 Seiten
22,60 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.10.2014)

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