Heimat ein Recht, Nation eine Fiktion

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Hat der Nationalstaat als Heimat ausgedient, ist das neue Zuhause Europa? Jedenfalls, so behauptet Robert Menasse in seinem neuen Buch, ist jeder in seiner Region verwurzelt. Eine Provokation in der Tradition von Max Frisch.

Sie stürmten mit lachenden Gesichtern über die Grenze. Vor 25 Jahren, im November 1989, öffnete sich die Berliner Mauer. Und die meisten, die erstmals in den Westen liefen, glücklich und aufgeregt, kehrten am selben Tag wieder zurück in ihre Wohnungen, in ihr Zuhause nach Ostberlin.
Heimat ist dort, wo der Ursprung ist. Sie ist ein Ort, eine Stadt, eine Region, in der das Vertraute überwiegt. Sie ist ein Stück Wohlbefinden. Aber kann sie auch ein Nationalstaat sein, und schon gar einer wie die DDR? Ostberlin war die Heimat derer, die endlich wieder über den Kurfürstendamm spazieren wollten, die endlich ihre Verwandten im Westen besuchen wollten. Während die DDR nach außen als Nation bei Wettkämpfen und Olympischen Spielen auftrat, erschien sie im Inneren den Bürgern als Käfig.

Aus der Ferne gesehen ist es logisch, dass diese künstliche Identifikation scheitern musste. Es ist klar, dass Heimat nichts mit einer Nationenbildung wie in der DDR zu tun hat, sondern mit dem Ursprung der Kindheit, mit jenem Ort, an dem der Mensch sozialisiert wurde. Heimat, so behauptet Robert Menasse in seinem neuen Buch, „ist ein Menschenrecht“. Doch er hinterfragt auch, ob sich die zufälligen und durch Kriegswirren entstandenen Nationalstaaten Europas noch als solche Identifikationsanker eignen.

Heimat kann Niederösterreich sein, wie für den Schriftsteller selbst, der in einem kleinen Ort im Waldviertel seine Essays und Romane schreibt – dort, wo er einst den Sommer bei seiner Großmutter verbracht hat. Für ihn war das eine willkommene Heimat neben Wien, und sie blieb es. Das klingt nachvollziehbar: Es gibt mehrere Heimaten in einem Leben. Weniger nachvollziehbar mag für viele sein, dass einer, dessen Vater in der Nationalmannschaft spielte, der selbst Fußball liebt, die Nationen als Anker der Identifikation infrage stellt. Denn der eingelernte Patriotismus hängt in unserem Empfinden eng mit der Nation zusammen. Heimat, so wurde uns in der Schule vermittelt, ist Österreich, ist die Alpenrepublik. Sie ist schön, vor allem in den Bergen, sie ist „zukunftsreich“ – seit Kurzem sogar für Frauen. Aber Menasse hinterfragt ja nur: Ist die Nation wirklich Heimat? Ist sie nicht nur ein zufälliges Konstrukt der Geschichte, ein labiles Gemeinwesen, dessen Grenzen sich so oft verändert haben?

Wer hat sich entfremdet?

In seinem neuen Buch „Heimat ist die schönste Utopie“, einer Zusammenfassung von Reden zum Thema Europa, erinnert Menasse an Max Frisch. Der stand im Jahr 1974 vor dem Auditorium im Zürcher Schauspielhaus und nahm den Schiller-Preis entgegen. In seiner damaligen Rede beschäftigte sich auch Frisch mit der Heimat, mit der Schweiz. Er stellte Fragen zu seiner Heimat, ob sie seinen Ansprüchen entspricht, sich vielleicht entfremdet hat. Die Rede wurde von nationalistischen Eidgenossen zum Skandal erklärt, Frisch als Nestbeschmutzer kritisiert.
Aber auch Frisch hat nur hinterfragt. Die Verknüpfung von Heimat und Nation ist, so argumentiert Menasse, ein gewolltes Missverständnis, eine Episode der Geschichte. Die Nationalmannschaft also nur eine schöne Form dieser Fiktion.

Politisch ist der Weg in ein nachnationales Europa längst eingeschlagen. Es war die Absicht der EU-Gründer, Jean Monnet und Robert Schuman, die kriegslüsternen Nationen in einer Gemeinschaft aufzulösen. Aber diese Union hat ein emotionales Defizit. Die EU ist bisher nicht zum Anker der Identifikation geworden und wird es auch vielleicht nie werden. Mit ein Grund ist ihr innerer Widerspruch: Heute werden zwischen 70 und 80 Prozent der Gesetzte durch die Organe der EU entwickelt und abgestimmt. Es wäre längst Zeit, sie als übergeordnetes politisches Gebilde anzuerkennen. Doch in ihrem wichtigsten Entscheidungsgremium, dem Rat, sitzen nationale Regierungsvertreter. Sie, die das gemeinsame Europa voranbringen sollen, sind rein von nationalen Interessen getrieben. Das kann nicht funktionieren.

Ist Heimat also auch Machtbasis? Oder ist der Nationalstaat nur eine Interessengemeinschaft? Wo ist die Politik im Sinne der Bürger am besten verankert? Menasse hielt im Herbst 2012 vor den Landtagsabgeordneten von Niederösterreich eine Rede. Darin appellierte er an die Landtagsabgeordneten: Sie sollten das nachnationale Europa umsetzen. Sie, nicht die Staats- und Regierungschefs, die regelmäßig in Brüssel tagen. Denn sie kennten die Menschen in ihrer Region, wüssten um ihre wahren Bedürfnisse. Die nationalen Regierungen hingegen seien ein Auslaufmodell: in der globalen Hierarchie zu weit unten, um Probleme wie Energiewende, Klimawandel oder Finanzmärkte zu lösen, zu weit oben, um die Menschen zu verstehen.

Der globale Markt raubt die Heimat

Kann Europa also eine Heimat sein, oder nimmt Europa uns die Heimat? Vielleicht nehmen die globale Wirtschaft, der globale Markt die Heimat, mit all ihren vereinheitlichten Marken, ihren Trends, ihren seltsamen Werten. Die EU wurde hingegen nicht gegründet, um die Menschen ihrer Heimat zu berauben. Es fragt sich angesichts ihrer Existenz allerdings, ob die Nation als Gemeinschaft der Bürger überhaupt noch taugt.

Zurück zur DDR: Es war logisch, dass dieser 30 Jahre lang existierende Staat für die Menschen keine Heimat geworden ist. Die Heimat blieb Berlin oder Leipzig. Die DDR war eine künstliche Nation. Aber sind andere Nationen weniger künstlich?

„Es ist“, schreibt Menasse, „eigentlich verdammt schwer, eine wirklich gute Rede zu halten – eine, bei der Zustimmung und Widerspruch nicht gleich von Anfang an feststehen.“ Das Buch „Heimat ist die schönste Utopie“ ist ein guter Grund nachzudenken. Über Grenzen zu gehen, diese zu hinterfragen. Es wird manche verstören.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.10.2014)

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