Der Atem der Frauen

Ece Temelkuran
Ece TemelkuranMehmet Turgut
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Die türkische Journalistin Ece Temelkuran hat einen einfühlsamen Roman über einen ungewöhnlichen Roadtrip geschrieben: eine Reise durch die von Männern gemachte Welt.

Das Leben hat nur einen totalen Moment. „Den Rest des Lebens“, sagt Madame Lilla, „verbringt man entweder damit, zu dieser einen Szene zurückzufinden oder vor ihr davonzulaufen.“ Vier Frauen stehen in der Wüste, irgendwo im nordafrikanischen Nichts, und während die in die Jahre gekommene Madame Lilla noch einmal zu ihrer höchstpersönlichen Szene zurück möchte, rennen die drei anderen vor ihrem Lebensmoment davon. Mehr als einmal fragen sich Maryam, Amira und die namenlose Erzählerin, warum sie auf der Flucht sind – und warum sie dieser wunderlichen Madame mit der mondänen Aura überhaupt in die Wüste folgen. Es wird noch dauern, bis sie die Antwort darauf erhalten.

Nur kurz vor ihrer Reise und scheinbar zufällig laufen sich Maryam, Amira und die Namenlose in Tunis über den Weg. Alle drei tragen ihre Lebenslast gut sichtbar durch die Welt, und die schnell geschlossene Freundschaft fühlt sich bereits nach einigen Momenten ungekünstelt an. Als sie in einer bierseligen Nacht Madame Lilla kennenlernen, fordert ebendiese die vom Leben gedrückten Frauen heraus: eine Reise quer durch die Staubwege bis nach Beirut, und zwar in einem klapprigen Mercedes.

„In der Wüste“, schreibt die Schriftstellerin Ece Temelkuran in ihrem Buch über diesen ungewöhnlichen Roadtrip, „geht die Sonne langsam unter.“ Temelkuran hat vier Charaktere erschaffen, die sie am Scheidepunkt ihrer Leben aufeinander zukommen lässt: „Was nützt mir die Revolution, wenn ich nicht tanzen kann?“, ist zwar ein Roman über Frauen und Freundschaften, aber das Buch hat auch märchenhafte Züge, was an manchen Stellen seltsam, insgesamt aber doch stimmig erscheint. Die Autorin lässt die vier Frauen anderen Frauen begegnen, die inmitten der männerdominierten Welt und erbarmungslosen Wüste ihre eigenen Reiche erschaffen haben: Dort blühen ganz unerwartet Judasbäume, und dort lernen sie einander wirklich kennen. Maryam, die gläubige Ägypterin, ist desillusioniert von der Revolution auf dem Tahrir-Platz; Amira, die Tunesierin, ist desillusioniert von der patriarchalischen Gesellschaft in ihrem Land; und die namenlose Türkin ist desillusioniert, weil ... Ja, das ist ein Wermutstropfen in Temelkurans Erzählung: Die Ich-Erzählerin bleibt kryptisch und anonym, dabei hätten die Leser auch ihre Geschichte in aller Vollständigkeit verdient.

Schwerer Stand. Es ist nicht zu übersehen, dass Temelkuran die Ich-Erzählerin mit autobiografischen Sprenkeln versehen hat. Sie und ihr Alter Ego sind Journalistinnen, die in ihrer Heimat einen schweren Stand haben. Temelkuran, eine Kritikerin der Erdoğan-Regierung, wurden oft Steine in den beruflichen Weg gelegt, weil sie unter anderem über die kurdische und armenische Frage schrieb.

Sie und ihr namenloses Pendant im Roman lieben und vermissen ihr Land, aber dass ihre Beziehung schwierig ist, lässt sich zum Beispiel in jener Szene erahnen, in der die Ich-Erzählerin scheinbar beiläufig zu einem tunesischen Straßenjungen sagt: „Weil das Land, aus dem ich komme, auch kein Herz für Kinder hat.“ Das Angezogen- und Abgestoßenwerden vom eigenen Land haben alle drei Begleiterinnen von Madame Lilla erfahren.

Von der alten Dame jedenfalls erfahren sie, dass es die Frauen sind, die die Welt am Leben erhalten. „Wir Frauen leben in Wirklichkeit in einer anderen Welt“, sagt die Dame Lilla in der Wüste. „Die Männer malträtieren und zerstören diese Welt unaufhörlich. Wir Frauen erschaffen sie mit unserem Atem immer wieder neu.“

Temelkuran hat ihren Roman augenscheinlich sehr ehrgeizig konzipiert. Sie möchte die Umbrüche des arabischen Frühlings ansprechen, die politische Lage in den Ländern, in denen die vier Reisenden unterwegs sind, sie möchte von festen und fragilen Beziehungen erzählen, von Frauen, die sich mit und ohne Männer durch den Alltag schleppen, und von der sagenhaften Königin Dido. Streckenweise erdrückt die Wucht der Erzählung, diese wird aber wettgemacht durch die wunderbare Bildsprache, der sich Temelkuran bedient – und die auch schön übersetzt wurde.

Neu Erschienen

Ece Temelkuran.
„Was nützt mir die Revolution, wenn ich nicht tanzen kann?“,
übersetzt von: Johannes Neuner,
Atlantik Verlag,
400 Seiten,
22,60 Euro.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.11.2014)

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