Szenen einer Mittelstandsehe

In ihrem Roman „Im Krieg und in der Liebe“ seziert Anne Tyler meisterhaft den Zerfall einer typischen US-Mittelschichtehe.
In ihrem Roman „Im Krieg und in der Liebe“ seziert Anne Tyler meisterhaft den Zerfall einer typischen US-Mittelschichtehe. Michael Lionstar
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Anne Tyler zeigt im Roman "Im Krieg und in der Liebe«´" die Ehe als Schauplatz eines aufreibenden Kleinkriegs. Zugleich zeichnet sie das einfühlsame Porträt einer Generation.

Als das Mädchen im roten Mantel und mit der klaffenden Kopfwunde in Begleitung eines Schwarms von Freundinnen in den Lebensmittelladen seiner Mutter tritt, ist es augenblicklich um Michael geschehen. Hals über Kopf verliebt sich der ein wenig ungelenke Gehilfe, als er sich niederbeugt, um Paulines Verletzung kunstgerecht zu versorgen. Angestachelt und aufgekratzt von der neuen Liebe, aber gegen den expliziten Willen seiner Mutter meldet er sich kurz darauf freiwillig für den Kriegseinsatz. Ein Schuss in das Hinterteil bewahrt ihn vor der Front, nicht jedoch vor der überstürzten Hochzeit. Wenig später ist der verhinderte Rekrut, der zwar nicht als Held, aber weitgehend unversehrt heimkehrt, verheiratet.

„Jeder in der Nachbarschaft konnte erzählen, wie Michael und Pauline sich kennengelernt haben.“ Mit dieser Ouvertüre im polnischen Einwanderermilieu Baltimores setzt der Roman „Im Krieg und in der Liebe“ ein. Mit Humor und psychologischem Feinsinn rollt Pulitzer-Preisträgerin Anne Tyler darin das Ehedrama auf, das in einen enervierenden Kleinkrieg ausarten sollte. Die Selbstzweifel bei der Hochzeit sollten ein Omen sein. „Er hätte in diesem Moment der glücklichste Mann der Welt sein können“, schreibt sie über Michael. Meisterhaft seziert die Schriftstellerin den Zerfall einer Mittelschichtehe, zeichnet sie das Porträt einer Generation. Besser trifft der Originaltitel „The Amateur Marriage“ die Ehe zweier blutjunger Spät-Teens: der lebenslustig-romantischen Pauline und des bedächtigen Michael. „Wie konnten zwei Menschen, die so verschieden waren, je hoffen, miteinander zu verschmelzen?“


Trauma Pearl Harbor. Tyler spannt den Bogen von der anfänglichen Kriegseuphorie nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor, einem nationalen Trauma, und dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg bis zum 60.Jahrestag des Harakiri-Überfalls im Pazifik. Ziemlich genau in der Mitte sorgt sie für einen Knalleffekt. Am Abend des 30.Hochzeitstags kommt es zum Eklat, als Pauline über gute und schlechte Zeiten ihres Zusammenseins räsoniert: „Was ist schon dabei, wenn wir uns ein wenig streiten? Ich finde einfach, das beweist, dass wir eine sehr erfüllte Ehe führen, eine Ehe voller Schwung und Leidenschaft. Ich finde, es war auch eine lustige Ehe.“ Nicht so für Michael, der an das ständige Gezeter und Gezänk erinnert: „Es war die Hölle.“ Sie antwortet: „Warum gehst du dann nicht? Geh! Worauf wartest du noch?“

Darauf, dass Michael sie tatsächlich beim Wort nimmt, sich die Autoschlüssel greift und in die Nacht verschwindet, ist sie jedoch nicht gefasst. So endet eine Ehe, die prototypisch den American Way of Life in Suburbia, der US-Vorstadtwelt, nachzeichnet – nicht aber der Roman. „Davon wird die Welt nicht untergehen“, betitelt Tyler denn auch ein Kapitel. Schließlich haben die beiden Protagonisten noch eine ganz andere Tragödie zu bewältigen: die Flucht Lindys, der aufmüpfigen ältesten Tochter, die jahrelange Suche nach ihr, zuletzt in der esoterischen, drogengeschwängerten Hippiekommune in San Francisco, die Adoption von Lindys verstörtem kleinen Sohn. Michael heiratet eine Schulfreundin Paulines, obwohl er in einem Winkel seines Herzens noch an seiner Exfrau hängt. Pauline dagegen hat kein Glück mit den Männern, und es nimmt kein gutes Ende mit ihr.

Anne Tyler scheut das Rampenlicht der Literaturszene, als feine Beobachterin kleinerer Familiendramen und Schöpferin gesellschaftlicher Sittenbilder machte sie sich in den USA einen fabelhaften Namen – nicht so brillant und vielschichtig wie Jonathan Franzen, anders als Philip Roth, ganz und gar unzynisch. John Updike zählte zu ihren Bewunderern, und Nick Hornby rühmt an ihr „Geist, Witz und Herz“.

Neu Erschienen

Anne Tyler

»Im Krieg und in der Liebe«
übersetzt von
C. Frick-Gerke und Gesine Strempel
Verlag Kein & Aber
399 S., 20,50 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.12.2014)

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