Salongespräch: „Textfetzen sind nur die Einstiegsdroge“

(c) Katharina Roßboth
  • Drucken

Vom Buch zum Event: Ein „Schaufenster“-Salongespräch über Lese-Entertainment und Facetten des Literaturbetriebs.

Tweets und Facebook-Statusmeldungen, Satzfetzen, die uns aus E-Mails entgegenflattern, und Texte, die für das möglichst schnelle Verschlungenwerden zwischen zwei U-Bahn-Stationen verfasst werden: Die neuen „Textsorten“, die die Gegenwart mit sich gebracht hat, umfluten uns unentwegt und mit tösendem Gebrause. Wer an die weitestgehend simplifizierte Syntax dieser Textproduktion gewöhnt ist, beißt sich freilich an Schachtelsätzen à la Doderer die Zähne aus. Wie steht es also um die Literatur, und wie groß ist das Entertainmentpotenzial dieser Sparte der Kulturproduktion? Das „Schaufenster“ lud eine Autorin, einen Slam-Poeten, einen Hörbuchverleger und eine Bibliotheksdirektorin zum Gespräch.

Wir leben in einer so schnelllebigen Epoche, dass die Zeit, die man für das Lesen eines Buchs reservieren muss, geradezu anachronistisch anmutet. Überspitzt gefragt: Ist Literatur überhaupt noch zeitgemäß?

Johanna Rachinger: Wenn man sich die Zahlen der vergangenen Leipziger Buchmesse anschaut, die fast euphorisch kommuniziert wurden, dann sieht es in der Tat erfreulich aus. Es gab einen großen Besucherzuwachs, mehr Aussteller und mehr Veranstaltungen denn je. Das finde ich großartig, weil es zeigt, dass sich viele Menschen weiterhin für Literatur interessieren und an Orte gehen, wo Literatur stattfindet. Was die literarischen Ausdrucksformen betrifft, so hat wohl jede Zeit die für sie passenden. Die Lyrik hat meiner Meinung nach in den vergangenen Jahren einen Aufschwung erlebt; in Leipzig wurde der Buchpreis etwa diesmal an einen Lyriker, Jan Wagner, verliehen. Und gerade weil wir, wie Sie schon gesagt haben, in einer Zeit leben, in der alles sehr schnell geht, wächst bei vielen, auch mir, das Bedürfnis nach Entschleunigung. Ein Zeitfenster für ein Buch aufzumachen lässt mich eben in einen solchen Zustand der Entschleunigung hineingeraten.

(c) Katharina Roßboth

Kai Jelinek: Die Zahlen sprechen tatsächlich gegen die These, dass Literatur nicht mehr zeitgemäß sein könnte. Entweder sie sind gleichbleibend, oder es sind sogar leichte Zuwächse zu verzeichnen, auch beim Gesamtumsatz der Buchbranche. Es gibt jedoch eine viel größere Medienvielfalt als in der Vergangenheit, und die Leser überlegen sich sehr genau, auf welche Formen sie zugreifen. Mit dem Hörbuch, wie wir es verlegen, stehen wir etwa in einer Tradition, die auf die Erfindung des Radios und die Ausstrahlung von Hörspielen zurückgeht. Wir arbeiten Literatur auf und setzen sie um und sind in gewisser Weise das Bindeglied zwischen Theater und dem gedruckten Buch.

Gertraud Klemm: Ich glaube auf keinen Fall, dass zum Beispiel Social Media den literarischen Text verdrängen, sondern, dass es sich da um völlig verschiedene Rezeptionsformen handelt. Ich könnte mir vorstellen, dass derartige Textfetzen nur die Einstiegsdroge sind, die einen erst zum Lesen bringt. Doch es bleibt unumgänglich, dass man sich die nötige Zeit nimmt, um ins Lesen hineinzukommen. Das Hörbuch würde ich da auch noch dazuzählen, weil man sich ja auch für dieses Anhören Zeit nehmen muss. Aber das ist eben so unsexy an der Literatur: dass man sich mit einem Buch hinsetzen muss, das im Wesentlichen nur aus Buchstaben besteht, und runterkommt und liest, die Sprache wirken lässt. Das ist ein sehr individueller Vorgang, von dem man aber, wenn man ihn erst einmal für sich entdeckt hat, nicht mehr wegkommt. Alles, was es an weiterführenden Experimenten heute gibt, etwa die Twitteratur oder auch Slam Poetry, das sind für mich zum Teil so kleine Blasen, die sich als Reaktion auf das Entertainmentbedürfnis entwickeln, aber die Urform des Lesens ist durch nichts zu ersetzen, und sie sehe ich auch nicht in Gefahr. Was übrigens Leipzig betrifft, wo ich natürlich auch selbst vor Ort war, muss man schon dazusagen, dass die tollen Besucherzahlen auch deshalb zustandegekommen sind, weil dort gleichzeitig eine Manga-Convention stattgefunden hat, die nochmals ein anderes Publikum angezogen hat.


Würden Sie sagen, dass das typische Publikum von Slam Poetry literaturaffin ist und diese Affinität in einen anderen Kontext, in dem dann Live-Unterhaltung geboten wird, transponiert?
Elwood Loud: Das glaube ich weniger. Poetry-Slam ist eine eher junge Kunstform, die erst in den 1980er-Jahren entstanden ist und darum neue Zielgruppen schafft. Im Extremfall sind das Menschen, die selbst nicht viele Bücher lesen, bei anderen mag das sehr wohl der Fall sein. Die ganz großen Goethe-Fans gehören wahrscheinlich weniger zu den Besuchern eines Poetry-Slams. Ein Slam ist immer eine Wettbewerbssituation, in der alle Autoren und Performer das Publikum so schnell wie möglich für sich gewinnen müssen, die maximale Zeitdauer für einen Vortrag sind fünf Minuten. Das hat im Lauf der Jahre dazu geführt, dass Poetry-Slam-Texte sehr dicht sind, sehr kompakt. Manche Texte sind inhaltlich so gut und spannen einen so starken Spannungsbogen, dass sie auch verschriftlicht funktionieren. Manchmal werden zwar auch schlechte Texte hochperformt, aber die wirklich guten Slam-Texte können beides. 

(c) Katharina Roßboth


Wenn man als Autorin beim Bachmannpreis vor das Publikum tritt, setzt man sich natürlich einer Situation aus, in der auf den skandalös vorgetragenen Text möglichst skandalösen Inhalts gewartet wird oder darauf, dass die Kritiker sich gegenseitig zerfleischen. Das ist freilich eine ganz andere Situation als jene, auf die man einen Text hingeschrieben hat, und sie muss einem auch grundsätzlich liegen. Tragen Sie gern vor, Frau Klemm?

Klemm: Gute Frage, das muss man, glaube ich, heute, anders geht es gar nicht. Ich glaube übrigens, dass viele der Autoren, die früher erfolgreich waren und weiterhin gern gelesen werden, heute gar nicht in die Öffentlichkeit kommen würden. Es ist so gut wie unmöglich, in völliger Zurückgezogenheit seine Texte zu schreiben, weder öffentlich zu lesen noch Interviews zu geben. Wenn ich den Bachmannpreis kurz zusammenfassen kann, dann hat sich das für uns Autoren im Nachhinein fast so angefühlt, als hätten wir gemeinsam eine Geiselnahme überlebt. Obwohl ich den Preis gewonnen habe, hatte ich das absurde Gefühl, völlig von der Kritik zerrissen worden zu sein, was ja gar nicht der Fall war. Aber man wird unweigerlich zum Substrat für diesen Zirkus, der dort stattfindet – eine echte Gladiatorenshow. Andererseits, würden dort nicht Autoren zerrissen, dann würde sich das kein Mensch anschauen. Es wird zwar so getan, als ginge es um die Literatur, und es ist auch schön, dass während der Tage der deutschsprachigen Literatur sich ein Fenster auftut, das die Literatur kurz zum Allerweltsthema werden lässt, doch dieses Fenster geht dann sofort wieder zu. Mir hat diese riesige Aufmerksamkeit sehr viel gebracht, aber es gibt auch diejenigen, die am Boden zerstört aus dieser Veranstaltung herausgehen.


Nicht jeder, der begnadet schreibt, ist zwingend auch ein guter Vorleser. Das erschwert aber die Teilnahme am Literaturbetrieb, wenn zu den Begehrlichkeiten, die Verlage ihren Autoren entgegenbringen, etwa auch Lesereisen gehören.

Klemm: Wenn man nicht gut liest oder glaubt, nicht vorlesen zu können, ist es in Klagenfurt schwierig, ja. Die Verlage suchen sich ihre Autoren zum Teil ja schon so aus, dass sie auch vortragen können, das wird im Vorfeld schon festgestellt. Manche Autoren sagen gleich, das ist nichts für sie, und man braucht ja auch wirklich einen bestimmten Klopfer, um sich das anzutun. Auf die Bühne zu gehen ist ein großes Risiko.

Rachinger: Einerseits ist es ein Risiko, und man muss sich dessen bewusst sein, was einen da erwarten kann. Und wenngleich Verlage mit ihrer ganzen Marketingmaschinerie darauf bedacht sind, aus manchen Autoren wirkliche Stars zu machen, ist das Ganze oft sehr kurzlebig. Dann kommen Autoren in die Situation, dass sie rasch nachproduzieren müssen, um diesen Kult am Leben zu erhalten, worunter wieder die Qualität der Texte leidet. Aber wir leben in einer Zeit, in der die Menschen daran gewöhnt sind, dass man ihnen andauernd Angebote macht, was man auch bei Kulturinstitutionen wie der Nationalbibliothek sieht: Das Vermittlungsangebot war noch nie so groß wie heute; dazu gehören auch Lesungen an unterschiedlichen Orten oder spezielle Angebote für Schulklassen wie unsere „Wortwelten“. Mit einem solchen Eventcharakter möchte man möglichst viele Menschen abholen und auch diejenigen erreichen, die zu Literatur im klassischen Sinn einen weniger starken Bezug haben.


Das Interessante an Hörbüchern ist wiederum, dass sie zu literarischen Texten eine neue Rezeptionsituation eröffnen. Wer ein Hörbuch hört, kann – und das hat es früher nicht gegeben – Literatur „nebenher“ konsumieren. Erklärt das den Erfolg?

Jelinek: Das ist ein bisschen wie Musik, natürlich. Die wenigsten setzen sich vor ihre Hi-Fi-Anlage, hören Chopin und machen sonst nichts mehr. Aber es gibt doch auch die paar wenigen; und es gibt auch die Menschen, die eine Situation zu schaffen versuchen, in der sie bewusst nur das Hörbuch hören. Aber natürlich, das Medium eröffnet die Möglichkeit, „Anna Karenina“ auf der Autobahn anzuhören.

(c) Katharina Roßboth


Wie sieht es mit Texten „ . . . gelesen vom Autor“ aus? Ist das ein gutes Format?

Jelinek: Das ist eher schwierig, es kommt schon einmal vor, dass Autoren an uns herantreten und wir sagen, den Text gern, aber gelesen von einem Schauspieler. So etwas ist natürlich heikel, da geht es um Befindlichkeiten. Wie wichtig der Vortrag ist, wird aber oft unterschätzt. In einzelnen Fällen lesen auch bei uns Autoren, aber ich bin weiterhin der Ansicht, dass Schreiben und Vorlesen zwei verschiedene Fertigkeiten sind.


Der Literaturbetrieb ist um vieles weniger glamourös und mit weniger Eventcharakter als etwa die Kunstszene aufgeladen. Ist eine Institution, die der Literatur verpflichtet ist, gleichwohl dazu angehalten, sich in der Hinsicht etwas einfallen zu lassen?

Rachinger: Es geht gar nicht so sehr darum, einem Eventcharakter nachzulaufen, sondern Bibliotheken haben sich in den vergangenen Jahren zu sehr offenen Einrichtungen entwickelt. Hier werden nicht mehr nur Bücher verwahrt und zum Lesen bereitgestellt, sondern auch in neuen Zusammenhängen präsentiert. Das trifft auch für unser Literaturmuseum zu, das wir Mitte April eröffnen werden. Wir holen Manuskripte, Erstausgaben, teilweise Objekte des persönlichen Gebrauchs von Autoren aus den Depots. Um Menschen die Möglichkeit zu geben, sich auch auf andere Art mit Literatur auseinanderzusetzen, und sehr wohl auch, um sie zum Lesen zu verführen. Ich finde das übrigens wichtiger denn je, gerade wenn man hört, dass der Literatur als Teil des Deutschunterrichts bei der Zentralmatura künftig weniger Platz eingeräumt werden soll. In dieser Situation Anstoß für die Auseinandersetzung mit Literatur zu geben ist unerlässlich. Die Angebote, die wir jetzt schon in der Nationalbibliothek machen, werden sehr gut angenommen – gerade die Möglichkeit, Autoren persönlich kennenzulernen, wird von vielen geschätzt.


Sehen sich Slam-Poeten eigentlich als Teil des Literaturbetriebs?
Loud: Ich sage immer, der Poetry-Slam ist der 100-Meter-Sprint der Literatur. Die Texte sind auf fünf Minuten Performance angelegt und nicht auf Romanlänge. Es gibt auch Poeten, die in die klassische Literaturschiene wechseln, andere gehen in die Kabarettszene. Vieles ist möglich, in mancher Hinsicht ist die Slam-Szene eine Kaderschmiede der Literatur, des Kabaretts und verwandter Disziplinen.

Klemm: Lesen, zuschauen, zuhören – für mich gibt es da große Unterschiede. Man denke nur an die Dramen, die man in der Schule, vielleicht gerade einmal mit verteilten Rollen, gelesen hat – so kann ein Drama nicht wirken, dafür wurde es auch gar nicht geschrieben. Unterhaltungslesungen, die Vermarktung der Autoren, all das sind für mich Derivate der Literatur. Leider dünnt das viele Texte aus, wenn man sie so um den Unterhaltungswert streckt. 


Früher war die Literatur, zumindest ist das meine Wahrnehmung, um vieles eher ein Sehnsuchtsort, also auch die Teilnahme am Literaturbetrieb. War das auch für Sie so, die Sie heute Autorin sind und verlegt werden, Frau Klemm?

Klemm: Ja sicher, aber es wird problematisch, wenn man das Gefühl hat, man muss um jeden Preis da hineinkommen und sich in eine bestimmte Richtung zwingen, sich in eine marktorientierte, verkäufliche Schablone hineinquetschen. Der Text verrät schnell die Absicht. Am besten ist es, kompromisslos das zu schreiben, wofür man sich engagiert und was man schreiben will. Dafür braucht es aber einen Verlag, der dafür Verständnis hat. Insofern kann die Literatur auch ein sehr dunkler Ort sein.


Gibt es Autoren, die mit einem Hörbuch debütieren? Hat es schon den literarischen Erstling gegeben, der erst nach der Hörbuchversion erstmals gedruckt wurde?
Jelinek: Das wäre sehr ungewöhnlich, normalerweise ist es anders herum; und im Regelfall verkauft sich ein Hörbuch dann gut, wenn sich auch das Buch selbst gut verkauft hat. Ausnahmefälle bei uns sind eigens zusammengestellte Programme, die auch live funktionieren würden, etwa eine Zusammenstellung von Textpassagen mit begleitender Klaviermusik, wie beispielsweise das „Berta Zuckerkandl“-Programm von Karin Lischka und Gottlieb Wallisch. Wir bekommen zwar bisweilen Manuskripte, aber diese sind von Autoren, die nicht verstanden haben, dass wir ein reiner Hörbuchverlag sind. 

(c) Katharina Roßboth


Die Nationalbibliothek wendet sich mit ihrem neuen Literaturmuseum an alle, die sich für das Objekt Buch interessieren.

Rachinger: Für das Objekt Buch, aber auch für Autorinnen und Autoren und Phänomene des literarischen Lebens. Wir zeigen viele unterschiedliche Bereiche, neben Manuskripten gibt es auch Hörstationen, Videos und Filme. Und Gegenstände aus dem Leben von Autoren, den Spazierstock von Handke oder den Schlafrock von Doderer etwa. Es ist ja wichtig, dass nicht nur gedruckte Texte gezeigt werden. Die Literatur bietet uns sehr viel, wie sie sich uns darstellt, da gibt es einfach ganz viele Parallelangebote: klassische Romane, aber eben auch Slam Poetry oder Hörbücher, experimentelle Formen, Lyrik. Ich denke, dass die Literatur auf jeden Fall weiterhin auf der Höhe der Zeit ist, so, wie sie das immer war, weil die Arbeit mit Sprache immer noch die beste Methode ist, um die Welt zu verstehen. Das wird immer die größte Sehnsucht der Menschen sein, und die Literatur bietet hier den besten Zugang.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.