"Polinas Tagebuch": Kind im Krieg

Polina Scherebzowa, geboren 1985 in Grosny, lebt heute im finnischen Exil.
Polina Scherebzowa, geboren 1985 in Grosny, lebt heute im finnischen Exil.(c) Maiju Torvinen
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Erschreckend, berührend, und vor allem wahrhaftig: Das Tagebuch des Mädchens Polina Scherebzowa gewährt eine außergewöhnliche Sicht auf die Kriege in Tschetschenien.

Der Krieg dringt brutal in Polinas Leben, als sie neun Jahre alt ist. Der Großvater liegt im Krankenhaus von Grosny, das Krankenhaus wird bombardiert, die Ärzte fliehen, die Kranken sterben. Die Stadt ist unter so starkem Beschuss, dass die Familie ihren Opa nicht aus den Trümmern des Spitals retten kann.

Polina Scherebzowa ist ein Mädchen in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny. Sie lebt hier mit ihrer Mutter, einer Russin; der tschetschenische Vater ist früh verstorben. Als Neunjährige beginnt sie 1994, ein Tagebuch zu führen. Es ist das Jahr, in dem in der russischen Teilrepublik der Krieg ausbricht: Tschetschenische Separatisten kämpfen gegen föderale Soldaten, die eine Abspaltung der nordkaukasischen Republik verhindern sollen. Moskau befürchtet einen Flächenbrand in den anderen Teilrepubliken an seiner verwundbaren Südflanke. Bis Ende 2002 dauert Scherebzowas Tagebuch, da ist der Krieg immer noch nicht vorbei, sondern in seine zweite, noch brutalere Phase getreten: Auf Bombenattentate folgen Säuberungsaktionen russischer Spezialeinheiten. Offiziell ist der Krieg heute beendet. Der Sicherheitsaufwand für die Ruhe ist enorm.

Scherebzowa lebt heute im finnischen Exil, in Russland wurde sie bedroht. Ihr nun veröffentlichtes Tagebuch gibt Einblicke in das Überleben im Kriegszustand aus den Augen eines Kindes, das nicht immer genau versteht, was passiert. Doch die kleine Polina hat eine Gabe, die vielen Erwachsenen abhanden gekommen ist: Sie beobachtet genau und unvoreingenommen.

Vom Leben hinter Fensterhöhlen. Ganz zu Beginn ist noch Frieden. Das Mädchen beginnt sein Tagebuch mit dem neunten Geburtstag: Polina bekommt eine Nusstorte, und sieht einen Menschenauflauf im Zentrum Grosnys. „Warum schreien die Menschen? Worum bitten sie?“, fragt sie. „Mama hat gesagt: ,Das ist eine Demonstration!‘“ In kurzen Einträgen, die sprachlich zusehends geschliffener werden, beschreibt sie den heraufziehenden Krieg, den Verlust eines sicheren Alltags, die Brutalisierung der Gesellschaft – etwa, wenn Tschetschenen und Soldaten die Hunde in den Höfen töten.

Polina und ihre Mutter leben in einem Mehrparteienhaus in Grosny, das zusehends vom Krieg zerstört wird. Die Familie lebt in einer Wohnung mit notdürftig geflickten Fensterhöhlen, ohne Strom und Gas. Das Essen wird rar, das Anstellen um Lebensmittel lebensgefährlich. Doch die beiden haben keine Verwandten anderswo in Russland, das Geld zur Flucht fehlt.

In der Schule wird das von den kaukasischen Mitschülern als „russisch“ stigmatisierte Mädchen geschnitten, auch geschlagen, selbst die Lehrer wagen es nicht, den Gemeinheiten der Schüler zu widersprechen. Polina ist verzweifelt, auch über die zunehmenden Tobsuchtsanfälle ihrer Mutter, aber nie verbittert sie. Und das Mädchen lernt, sich zu wehren, studiert Selbstverteidigung genauso wie Yoga. Überhaupt liest Scherebzowa, so viel sie kann, tschetschenische Poesie, die russischen Klassiker. Bücher – jene, die noch nicht verheizt oder gestohlen sind – und das Tagebuchschreiben helfen ihr durch die schlimme Zeit, ebenso wie ihr unerschütterlicher Gerechtigkeitssinn und ihr unbestechliches Urteilsvermögen. Es sind diese Eigenschaften, die ihre persönliche Chronik so berührend, einzigartig und universell zugleich machen: Polina Scherebzowas Tagebuch ist ein Zeugnis vom Menschsein und Menschbleiben in Zeiten des Krieges.

Neu Erschienen

Polina Scherebzowa
„Polinas Tagebuch“
übersetzt von
Olaf Kühl
Rowohlt Berlin Verlag
571 Seiten
23,60 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.04.2015)

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