Der Samenpflanzer

Chigozie Obioma, Jahrgang 1986, zählt zu den vielversprechendsten jungen Autoren Afrikas.
Chigozie Obioma, Jahrgang 1986, zählt zu den vielversprechendsten jungen Autoren Afrikas.(c) Scott Soderberg
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Chigozie Obioma beschreibt in seinem Debütroman »Der dunkle Fluss«, wie Angst nicht nur in Nigeria eine ganze Familie zerstören kann.

Akure, eine Stadt im Westen Nigerias in den 1990er-Jahren. Die vier Brüder Ikenna, Boja, Obembe und Benjamin, der Ich-Erzähler, erleben eine vergleichsweise glückliche Kindheit. Der Vater, ein Mitarbeiter der nigerianischen Zentralbank, ist zwar streng und erzieht sie zu Fleiß und Strebsamkeit. Doch er will, dass sie ihren Weg gehen, studieren, Arzt werden, Anwalt, Pilot oder Ingenieur. Das ist schwer in dieser Zeit, in dieser Gegend, in diesem Land. Aber es gibt da auch diesen Bekannten in Kanada und damit eine Perspektive in der reichen, westlichen Welt – ein Traum für jeden der Jungen. Dann, recht plötzlich, muss der Vater in eine entfernte Stadt im Norden ziehen, um zu arbeiten. Er verlässt seine Frau, die vier Brüder und die zwei jüngsten Geschwister – und das Unheil nimmt seinen Lauf.

Noch ahnt das freilich keiner. Der väterlichen Strenge entkommen, zieht es die vier Jungen zum Raufen in die Nachbarschaft und schließlich zum Fischen an den Fluss Omi-Ala – streng verboten, weil dort, wie es heißt, tödliche Gefahren lauern. Eines Tages treffen sie auf einen Mann namens Abulu, der verrückt sein soll, aber Ereignisse vorhersagen kann. Seltsamerweise kennt er den Namen von Ikenna, dem ältesten Bruder. Ihm prophezeit er, dass er von einem seiner Brüder getötet werden wird. Von diesem Zeitpunkt an kapselt sich Ikenna ab, wird immer aggressiver und schließlich krank.

Mit „Der dunkle Fluss“ hat der Autor Chigozie Obioma einen Debütroman geschrieben, bei dem es um viel mehr geht als um eine bloße Darstellung einer Kindheit in Nigeria während der Militärdiktatur von General Sani Abacha. Zwar streift Obioma auch die Politik – der Vater der Brüder diskutiert die politische Lage, sie selbst treffen per Zufall auf Moshood Kashimawo Olawale Abiola, kurz M.K.O. Abiola, Präsidentschaftskandidat 1993. Doch es geht Obioma nicht um tiefere politische Zusammenhänge oder die sozialen Missstände in dieser Zeit im bevölkerungsreichsten Staat Afrikas. Einen zentralen Satz lässt der Autor den Ich-Erzähler Benjamin selbst sagen, als dieser die Geschichten schildert, die ihm sein Bruder Obembe so gern erzählt: „Diese Geschichte, wie alle guten Geschichten, pflanzte einen Samen in meinem Herzen, ich vergaß sie nie.“


Misstrauen und Hass. Schritt für Schritt verwandelt sich die Verbundenheit zwischen den beiden ältesten Brüdern, Ikenna und Boja, in Misstrauen und Hass. Der Rest der Familie muss diesem Prozess machtlos zusehen. Längst kann auch der Vater, der die Familie regelmäßig besucht, nicht mehr eingreifen, er verliert in diesem Prozess seine einst so allmächtige Position und all seine Träume über die glorreiche Zukunft seiner Nachfahren. Als Boja schließlich Ikenna tötet und dann ebenfalls ums Leben kommt, entschließen sich Obembe und Benjamin, den Tod ihrer Brüder zu rächen.

Die Geschichte von Benjamin und seinen Brüdern erzählt von der Angst und was diese mit einem Menschen, einer Familie, einem ganzen Land machen kann, wenn sie sich erst einmal ausgebreitet hat. Sie erzählt von unerfüllten Träumen, von der Hoffnung und vom Erwachsenwerden. Und nicht zuletzt auch von der ewigen Frage: Was ist richtig, was ist falsch?

Eingebettet in eine Gesellschaft, in der Aberglaube noch eine große Rolle spielt und man um Sicherheit und das eigene Überleben kämpft, seziert Chigozie Obioma in direkter, klarer Sprache und detailliert gezeichneten Bildern die Persönlichkeiten seiner Protagonisten und die unheimliche Kette der Ereignisse. Und obwohl so vieles davon unausweichlich erscheint, lässt sich das Buch erst weglegen, als Benjamin wieder zu Hause ist.

Erschienen

Chigozie Obioma
„Der dunkle Fluss“,
übersetzt von
Nicolai von
Schweder-Schreiner
Aufbau Verlag
313 Seiten
20,60 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.05.2015)

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