Ein Jahrhundert Familie

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Der Musiker und Schriftsteller André Herzberg erzählt von einer jüdischen Familie im Spiegel der deutschen Geschichte. Ein großer Roman, poetisch und bedrückend.

Kurz vor dem Mauerfall kann Jakob Zimmermann etwas fühlen, was er nicht recht begreifen kann. „Da braut sich was zusammen“, denkt Jakob, „eine Stille, eine Ruhe, eine verschleierte Trägheit ist in der Luft. Etwas holt Atem. Ein Sturm wird kommen.“ Im Fernsehen sagt der SED-Mann etwas von Reisefreiheit, dann wirbelt der Sturm, den Jakob schon vorher schmecken konnte, jedes einzelne Staubkorn in Berlin auf. Die Mauer wird niedergerissen und Jakob sagt: „Ich bin für einen Moment das Volk.“ Und dann: die Ernüchterung. Jakob begreift, dass er Zeit braucht. Zum Nachdenken und zum Trauern – um eine nicht mehr vorhandene Heimat und eine Familie, die die deutsche Geschichte ein Jahrhundert lang zermürbt und zerteilt hat.

Der Musiker und Schriftsteller André Herzberg erzählt in seinem Roman „Alle Nähe fern“ eine monumentale, bedrückende und bemerkenswerte Familiengeschichte mit Jakob Zimmermann als dem letzten Glied der Kette und Ich-Erzähler. Zwei Generationen vor Jakob treffen sich Heinrich und Rosa, seine Großeltern, atemlos und heimlich in einem Hotelzimmer in Bremen. Sie heiraten, ziehen nach Hannover. Heinrich ist ein guter Geschäftsmann, er will seine Familie wohlbehütet wissen, regiert aber mit strenger Hand. Er liebt Deutschland und verachtet seine orthodox-jüdischen Glaubensbrüder, „die Männer mit den langen Schläfchenlocken, die Frauen mit den Perücken [...] das unerträgliche, schlechte Deutsch.“ Im Ersten Weltkrieg zieht Heinrich für Deutschland in den Krieg, am Vorabend des Zweiten Weltkriegs sagt er, dass es Antisemiten immer schon gegeben habe. Sein Sohn Konrad, der sich den Sozialdemokraten angeschlossen hat, warnt ihn und Rosa unaufhörlich vor den Nazis, findet aber kein Gehör: „Du bist immer noch ein dummer Junge, sagt Mutter.“ Noch im selben Monat ergreift Hitler die Macht.

Die Eltern fliehen Richtung USA, Konrad nach Südafrika, und Paul, den jüngsten Sohn, haben sie mit dem Kindertransport nach England geschickt. Heinrich und Rosa kommen als gebrochene Menschen in New York an. Er findet Arbeit als Heizer, sie zieht von Tür zu Tür und verkauft Strümpfe. Von ihrem bürgerlichen Leben in Hannover sind nur noch Scherben übrig.

Leben in der DDR. In Großbritannien findet Paul Trost im Sozialismus. Nach Kriegsende ziehen er und seine Frau Lea, die ebenfalls per Kindertransport nach England kam, nach Ostberlin und verschreiben sich dem Kommunismus. Die jüdische Identität versuchen sie krampfhaft abzuschütteln, sie ist der sozialistischen Sache nicht dienlich. Für Lea gibt es seit Auschwitz keinen Gott mehr, Paul wird den Zionismus sein Leben lang verachten – und selbst das Land, das seine Eltern vor den mörderischen Nazis gerettet hat, bleibt für ihn der kapitalistische Feind. Die Politik wird bei den Zimmermans immer die Familie verhindern. Lea und Paul leben für die Partei, auch dann, als ihre Ehe in die Brüche geht, und auch dann, als die DDR nur mehr ein Schattendasein fristet. Dem aufmüpfigen Sohn Jakob sind die vorgegebenen Grenzen sowieso zu eng. Als Musiker darf er Ostberlin, wo die Liedtexte zensiert werden, verlassen: „Das Eintauchen in die Welt hinter der Welt macht alles zu Hause noch öder, meine Welt hier wird nur noch grauer, ihre Sprache ein wütendes Bellen, ein verrücktes Gemurmel.“

Mit Jakob teilt sich der Autor Herzberg das Geburtsjahr und die Geburtsstadt: 1955, Ostberlin. Vermutlich hat er weitere autobiografische Details in seinen Roman verflochten: Herzberg war mit seiner Band Pankow erfolgreich in der DDR, später war er als Solokünstler und Schauspieler tätig. „Alle nähe fern“ ist sein drittes Buch. Es ist ein wunderbar poetischer und berührender Roman geworden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.06.2015)

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